Melancholie aus dem Zeigefinger

Radio_Copernicus sendet seit einer Woche ungewohnte Geräusche durch die Stadt. Denn das deutsch-polnische Projekt berichtet nicht über Kultur, es ist selber ein Stück Kunst. Von extrovertierten Sound-Freaks fehlt jede Spur. Dafür ist die Wirkung der durchdringenden, meist düsteren Klänge enorm

VON CHRISTO FÖRSTER

Töne sind keine Buchstaben. Genau das ist das Problem. Wenn es so einfach wäre, Klänge auf Papier zu bringen, dann hätte das Radio als Medium ausgedient. Und das hat es nicht.

Menschen, die das deutsch-polnische Künstlerprojekt Radio_Copernicus noch nie gehört haben, kann man den Klang der Sendungen kaum begreifbar machen. Schon der Versuch, das Projekt am eigenen Radiogerät einzuprogrammieren, gerät zur Farce. Erst auf minutenlanges Feintuning folgt die Erkenntnis, dass der Kunstsender längst richtig eingestellt ist. Die Störgeräusche gehören dazu. Es dauert eben, bis man experimentelles Radio so richtig verstanden hat.

Auch ein Besuch im Sendestudio hilft da nicht wirklich weiter. Der Besuch ist informativ. Das schon. Man erfährt etwa, dass die Mitarbeiter gerade auf der Suche nach einem verlorenen Jingle sind. Und dass das Team die Antenne auf dem Dach vier Meter höher gesetzt hat, um das eigene Signal zu verstärken – damit über die Frequenz 95,2 UKW tatsächlich das gesamte Berliner Stadtgebiet erreicht wird. Nur am Mikrofon passiert nicht viel. Da sitzt der Theatermacher Florian Wüst mit dem Kollegen Hans-Werner Krösinger und plaudert über Dokumentar-Inszenierungen. Zwischendurch laufen Songs von Hanns Eisler über den Äther. Künstlerradio stellt man sich anders vor, irgendwie abgedrehter.

Ein zweiter Termin muss her. Irgendwann tauchen sie bestimmt auf, die Sound-Genies, die sich die Seele aus dem Leib experimentieren.

Am Samstagabend sendet Radio_Copernicus live aus dem INN.to in der Schönhauser Allee. Der kleine Raum, in dem zwei Klangkünstler für Stimmung sorgen sollen, ist fast nackt. An den kahlen Wänden schlängeln sich graue Kabel, leere Bierkisten dienen als Sitzgelegenheiten. Die rote Lichtröhre an der Decke wirft schummriges Licht, und niemand sagt ein Wort. Dies könnte auch die Messe einer Sound-Sekte sein. Viele Jünger sind nicht da, nur zwei Typen sitzen bewegungslos genau in der Mitte des Raumes und lauschen andächtig dem Guru, der vorne am Altar thront.

Andrés Jankowski braucht nicht mehr als zwei Computer, ein kleines Mischpult und ein Lautsprecher-Paar, um seine Klanglehre zu verbreiten. Sphärische Audio-Wolken wabern durch die Luft, immer wieder unterbrochen von Störgeräuschen, von Scheppern, Klacken und Knistern. Die drei Tüten Eis, die per Videoprojektion an die Wand hinter dem Altar geworfen werden, schmelzen langsam vor sich hin. Jankowski bewegt sich kaum schneller. Wie in Zeitlupe zaubert der Argentinier mit polnischen Wurzeln die skurrilen Töne aus seinem Laptop hervor.

Später wird Jankowski erzählen, wie früh ihn die Liebe zur Musik packte. Von seiner Mutter lernte er Klavierspielen. Schon bald kam dann die Erleuchtung unter der Dusche: Er hörte ein elektronisches Stück im Radio, das ihm keine Ruhe ließ, bis er selbst anfing, mit Sounds zu experimentieren. Heute lebt Andrés Jankowski in Berlin. Wie viele Künstler muss er immer wieder um Aufmerksamkeit ringen. „Ich weiß, wie es ist, vor einer Hand voll Leuten aufzutreten. Das kommt oft genug vor. Gerade die Berliner sind schwer zu begeistern, haben alles schon gehört. Buenos Aires etwa ist da viel offener.“

Radio_Copernicus will das Bewusstsein für die Notwendigkeit experimentellen Radios stärken – in Deutschland und in Polen. Als Beitrag zum deutsch-polnischen Jahr 2005/2006 haben junge Klangkünstler und Kulturschaffende unter der Leitung von Sabine Breitsameter ein Programm aufgestellt, das von ungewöhnlichen Gesprächsrunden über Sound-Recycling bis hin zu vierkanalig ausgestrahlten Hörspielen reicht, die das gleichzeitige Einschalten von zwei Radiogeräten erfordern.

Die extrovertierten Freaks aber, die man bei dem Gedanken an ein Künstlerradio vor Augen hat, sind bei alledem nicht zu finden. Es gibt sie auch nicht. Weit und breit fehlt jede Spur von hektischer Radio-Action. Es scheint, als hätten die Macher von Radio_Copernicus Angst, mit jeder überflüssigen Bewegung den Klängen ein Quäntchen ihrer Wirkung zu nehmen.

Auch Jankowski predigt mit stoischer Ruhe weiter von seinem Altar. Major Tom muss hier irgendwo sein, so schwerelos fühlt sich die Musik an, die aus den Lautsprechern kommt. Kurz bevor der Raum abhebt, gibt Jankowski ein kaum wahrnehmbares Zeichen: Ablösung. Lukasz Szalankiewicz übernimmt.

Mittlerweile ist es voller geworden, aber gesprochen wird immer noch nicht. Höchstens geflüstert. Der neue Mann am Altar lässt die sphärischen Klänge seines Vorgängers in einen treibenden, melancholischen Rhythmus übergehen. Auch der Krakauer Szalankiewicz bewegt kaum mehr als seinen rechten Zeigefinger, der auf dem Touchpad hin und her zuckt und dem Computer das entlockt, was dem Meister gerade einfällt – etwa die Hälfte der Sounds sind improvisiert. Die Wirkung der durchdringenden, meist düsteren Klänge ist enorm. Der eigene Körper vibriert, als würde das Herz E-Bass spielen.

Gegen Mitternacht ist die Live-Übertragung aus der Schönhauser Allee vorbei. Nachdem ein Moderator das letzte Wort hatte, beweist Szalankiewicz noch einmal, dass ein Klangkünstler keine Scheu vor Grenzgängen hat, und dreht poppige Tanzmusik aus Polen auf. Der kahle Raum ist ganz schnell wieder ganz leer. Nur die Sound-Artisten selbst sind jetzt noch da und plaudern entspannt über Jingles, Filmmusik und polnischen Wodka.

Etwas verwirrt von den Eindrücken dieses sonderbaren Konzerts machen die wenigen Zuhörer sich auf den Weg nach Hause.

Was war das? Was wollen Leute wie Jankowski und Szalankiewicz mit ihren Klängen sagen? Oder würden sie einfach reden, wenn sie etwas zu sagen hätten?

Die Gedanken über Sinn und Unsinn halten nur so lange an, bis klar wird, dass das Grübeln nicht der Weg ist, sondern schon das Ziel. Wie bei jedem guten Kunstwerk. Zu Hause rauscht das Radio.