Hausbesuch Mahide Lein wäre bei der Geburt fast gestorben. Sie sagt, so hätte sie das Schlimmste schon hinter sich. Seither lässt sie sich treiben. Sie organisiert Konzerte, liebt Frauen und hat auf Irrenbällen getanzt
: Sie sucht Afrika in Berlin

Mahide Lein, das Lesbenszeichen zeigend, inmitten all der Erinnerungsstücke in ihrer Wohnung

Von Waltraud Schwab
(Text) und Miguel Lopes (Fotos)

Draußen: Ein vierstöckiger Altbau in der Lilienthalstraße. Auf der einen Straßenseite ist die Nuntiatur des Vatikan und die klobige Sankt-Johannes-Basilika. Auf der anderen ist der Garnisonsfriedhof. Einen Gedenkstein für die in den Kolonialkriegen gefallenen Soldaten gibt es dort schon lange. Einen für die 60.000 Herero und Nama, die von den Deutschen in die Wüste getrieben wurden und verdursteten, erst seit 2009.

Drin: Eine Wohnung mit Erinnerungen. Das Klavier der Großmutter, die Jahrmarktsschaukel, Balafon, Bücher, Platten, alte Plakate, (das tibetische Neujahrsfest mit Nina Hagen, das Miriam-Mekaba-Erinnerungskonzert), Decken aus Afrika, Schildkröten, Plüsch – ein Haufen Damals, ein Haufen Jetzt.

Was sie von all dem mitnehmen würde, wenn es brennt: Sie greift nach einem blümchenverzierten Porzellanteller. „Der ist von meiner Oma.“ Das Herz stecke drin. Und die Seele.

Mahide Lein: Sie kam 1949 in Frankfurt-Höchst zu Welt. Die Mutter Akkordeonistin und technische Zeichnerin. Der Vater Goldschmied. „Ich bin eine Totgeborene“, sagt sie. Im Geburtskanal stecken geblieben, 20 Minuten, und die Nabelschnur um den Hals. Mit Massagen oder so hätte die Hebamme sie zum Atmen gebracht (“ein Wunder“). Drei Geschwister hat sie, die lebend geboren sind. Und sieben, die die Geburt nicht überlebten.

Eine Totgeborene sein: „Ich sollte immer die Starke sein“, sagt sie. Ja, sie sei groß, aber Größe ist nicht Stärke. Sie habe die Herausforderung trotzdem angenommen: „Wenn du als Totgeborene lebst, hast du das Schlimmste schon überstanden. Da kannst du auch stark sein.“ Sie hat im November Geburtstag, dem Totenmonat. Sie liebt die Zwischenwelten.

Die Zwischenwelt: Schon ihre Eltern seien nicht sehr angepasst gewesen. „Es ging turbulent zu.“ „Das macht man nicht“ habe es, sagt sie, nicht gegeben. Mädchen ziehen keine Hosen an – so was. Im Hause Lein kamen alle Freundinnen vorbei, zogen sich die Röcke aus, die Hosen an und stiefelten los. Und wenn sie nach Hause mussten, kamen sie wieder vorbei, um sich umzuziehen. Auch andere Themen waren kein Tabu: Selbstmord, Sex, Kinder ohne Väter, Alkohol, Scheidung. „Nur über die totgeborenen Kinder redete meine Mutter nicht.“

Draußen: Der Blick vom Balkon auf die Sankt-Johannes-Basilika

Das gelebte Leben: Mahide Lein ist 65 Jahre alt. Was sie gelebt hat, ist nun von ebenso großer Bedeutung wie das, was sie lebt. Nur wird, was sie getan hat – Frauencafés eröffnen, Lesbenbewegung voranbringen, Veranstaltungen organisieren, oft solche, die ihr Schulden einbringen –, selten im Lebensbilanzbuch aufgeführt. Heute ist sie Rentnerin und veranstaltet weiterhin Konzerte. Die Künstler und Künstlerinnen, die sie vertritt, sind sehr eigen.

Wie genau es begann: Mit 17 sei sie von zu Hause weg. „Meine Eltern waren Hausbesitzer, ich wurde Hausbesetzerin“. Sie studiert Politik und Religion. „Mir gefiel es an der Uni nicht“, sie macht lieber ein Frauencafé in Frankfurt. Am Kettenhofweg, Ecke Niedenau. „Niedenau“ hieß es. Für Feministinnen gab es viel zu tun: Die Abschaffung des § 218. Die Skandalisierung sexueller Gewalt. „Frauen erobern die Nacht zurück.“ Auch das Lesbische fällt Mahide Lein zu. „In der Linken fing man mit dem Gruppensex an, da bin ich an einer Frau hängen geblieben.“ Zu ihrem Bedauern nicht lange. „Ich wusste damals gar nicht, dass es viele Lesben gibt.“

Nicht die Einzige: Nach der portugiesischen Revolution 1974 sei sie nach Portugal. Sie habe in einem großen Zelt übernachtet und da hatten zwei Berlinerinnen miteinander Sex. „Ich, hä, das gibt’s? Ich war doch nur einsam gewesen die ganze Zeit.“ Da hätten ihr die Frauen erzählt, was sie in Berlin so machten. Lein dachte: „Das muss es auch in Frankfurt geben.“ Sie gründete dort das Lesbenzentrum. 1977 geht sie doch nach Berlin – der Liebe wegen, macht beim Frauenbuchvertrieb mit, im Café Winterfeld. „Ich habe immer Café und Kultur gemacht.“

Ein Einschnitt: 1987 geht ihr das Geld aus. Sie hatte vom Verkauf eines Hausanteils gelebt. Mit arbeitsamtfinanzierten Stellen macht sie in der Szene weiter, engagiert sich nach 1989 für Lesben in Ostblockländern, organisiert den ersten CSD in Russland 1992, organisiert nicht massentaugliche Konzerte mit Musikerinnen aus Osteuropa, Tibet, Kuba, Afrika. Organisiert noch weniger massentaugliche Veranstaltungen mit Irren, mit Huren, mit queeren Huren.

Simbabwe: Auf einer Party 1994 lernt sie eine Frau aus Simbabwe kennen. „Und ich wusste gar nichts über das Land.“ „Send me a postcard sometimes“, sagt die Frau. Lein fährt hin, macht einen Film „Send me a postcard sometimes“ heißt er. Sie filmt, was sie bewegt: die Gay-Kultur, aber auch Traditionelles, Sexarbeiterinnen, die erste Frauenbewegung Simbabwes, ein Projekt gegen sexuelle Gewalt. „Die Reise hat mein Leben verändert. Ich hatte erstmals viel mit Kindern zu tun. Ich wurde männerfreundlicher. Ich habe meine Hautfarbe vergessen.“ Zurück, habe sie dann Afrika in Berlin gesucht. Bis heute.

Von Herzen: Das Professionelle hat bei Mahide Lein manchmal eine aus der Mode gekommene Note: „Ich mache es, auch wenn ich weiß, dass man kein Geld verdienen kann. Ich mache es von Herzen.“ Ihr fällt das Miriam Makeba Memory Festival ein. „Das wollte ich jedes Jahr machen, aber es hat meine Kräfte überstiegen. Ich wollte es aus Liebe machen.“

Drin: Jeder Flecken im Haus birgt Erinnerungen – auch die Haustür

Sex: Für eine Tabubrecherin ist alles Sex. „In den meisten Kulturen wird nur der Schwanz erklärt, aber nicht, wie Frauen Sex genießen können.“ Früher sei der Sex für sie wichtig gewesen. „Ich sah eine Frau und wusste, was die wollte. Mehrmals am Tag. Das war so eine Zeit in den 80er Jahren. Das kann ich mir nicht mehr vorstellen heute.“

Wie viele große Lieben? Sie zählt auch ihre platonischen Lieben dazu: Da war die, wegen der sie nach Berlin kam. Dann eine Musikerin von Mama Kumba. Zudem Mieke Jansen, die sich umbrachte. Und eine, die ihr half, über den Tod von Mieke Jansen zu kommen. Auch Anke Rixa Hansen, eine Filmschaffende. „Herzlich verbunden bin ich bis heute noch mit einer Brasilianerin.“

Und was hält sie von Merkel? Erst fällt ihr nichts ein, dann doch: „Ich hätte gerne, dass meine Künstler und Künstlerinnen mal bei ihr auftreten.“

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