Hausbesuch Berit Hellers hat sich einen Traum erfüllt: einen Laden, in dem es alles ohne Verpackung gibt
: Die Frau hat Überzeugungskraft

Wer auf Verpackung verzichtet, kommt den Dingen näher. Berit Heller in ihrem Laden

Text Michael Bartsch
Foto Sven Döring/Agentur Focus

Dresden, Äußere Neustadt. Besuch bei Berit Heller, 46, in ihrem ­“Lose-Laden“

Draußen: Hartnäckig hält sich für die Gründerzeitbebauung im Dresdner Norden die Bezeichnung „Szeneviertel“. Doch die Kunstschaffenden und Anderslebenden hat die Gentrifizierung längst vertrieben. Wer in der Kneipe singt, fliegt raus. Dennoch wohnen hier viele Grün-Wähler und -Wählerinnen und tolerante Aufgeklärte. Hippe Läden sind hier, die es nur in der Neustadt gibt, darunter seit April den „Lose-Laden“ auf der Böhmischen Straße. Ein Neubau anstelle von DDR-Ruinen, unweit vom Kunsthaus Raskolnikow und dem Kultur­zen­trum „Scheune“ gelegen.

Drin: Auf den ersten Blick eine stilvolle, aber keine sterile Einrichtung. Links Kühltheke und Wandregal mit Kaffeegeschirr, obendrauf dekorative Behälter – Milchkannen und anderes vom Flohmarkt. Rechts im Vorraum eine rot bezogene Ottomane und ein ähnlich jugendstilartiges Sofa zum Schwatzen und kleine Tische mit Zeitschriften wie Soziales Trinkwerk oder Bioboom, Kinderstühle. Selbst gebaute Regale, darauf Acryl­glas­röhren mit „Schüttgütern“, Müslizutaten, Reis, Hülsenfrüchten, Käse mindestens im Kiloformat, Brot und Brötchen vom Biobäcker. Ballons mit Shampoos und Reinigungsmitteln (die Umfüllung braucht ein bisschen Zeit). Saftkonzentrate, die die fünffache Trinkmenge ergeben. Verschließbare Tee- und Kaffeebehälter. Die Obst- und Gemüsekühltheke sind gebraucht gekauft, aus alten Paletten wurde der Waagentisch gezimmert. Dazu liegen wieder­verwendbare Dosen und Gläser, Flaschen, Gemüsenetze, Papiertüten für den Notfall, wenn Kunden Behälter vergessen haben, bereit.

Sogar das afrikanische Ruanda ver­bietet Plastiktüten. „Die sind überall weiter als wir in Deutschland!“, sagt Berit Heller

Der Lose-Laden: Das Berliner Geschäft „Original unverpackt“ diente als Vorbild: Zumindest den täglichen Überlebensbedarf ohne den Ballast von Einschweißfolien, Flaschen und Kartons einkaufen. Wie zu der Zeit, als Kinder noch mit der Milchkanne losgeschickt wurden. DDR-erfahrene Neustädter erinnern sich, dass sie mit der Bierkanne in die nur 100 Meter entfernte Kneipe „Hebeda“ gingen. Auch in Dresden machte eine erfolgreiche Crowdfundingkampagne bei „startnext“ den Start dieses Nachhaltigkeitsprojekts möglich. 28.000 Euro kamen zusammen. Am 27. März dieses Jahres Eröffnungsparty. Das Prinzip liegt auf der Hand: Man bringt Gefäße und Behälter mit, wiegt sie leer ab, befüllt sie, an der Theke wird nochmals gewogen, man zahlt die Differenz. Preise, die knapp unterhalb derer von üblichen Bioläden kalkuliert sind. Die Waren kommen vom Großhandel, immer öfter auch von Direktvermarktern.

Berit Heller: Englisch war zwar ihr Lieblingsfach in der DDR-Schule, aber im ersten typischen Frauenberuf fühlte sie sich wohl: Kosmetikerin. Mit dem Ende der DDR war auch mit dieser Arbeit Schluss. Zwei Jahre arbeitslos, dann Fremdsprachenkorrespondentin Englisch/Französisch (“20 Jahre im Büro eines Elektronikkonzerns, mit dem ich nie warm wurde und der sich später aus Dresden zurückzog“) Am Mittwoch vor dem Himmelfahrts-Männertag 2014 bekundet sie gegenüber ihrem Mann, dass sie aussteigen will. Bis Oktober blieb sie noch im alten Betrieb, dann machte sie sich an die Verwirklichung des großen Laden-Plans.

Was denkt sie? Sie ist überzeugte Nachhaltigkeitsdenkerin und -täterin. Sogar das afrikanische Ruanda verbietet Plastiktüten (“Die sind überall weiter als wir in Deutschland!“) Sie ist gegen sinnlose Verschwendung, nicht nur von Verpackungen. Leitspruch, wenn es generell um das Thema Umweltbelastung geht, ist: Jeder kann etwas tun! „Wenn beispielsweise alle ab sofort mit einem Stoffbeutel einkaufen gehen würde, hätten wir ein Riesenproblem weniger!“ Auch für die Ladeneinrichtung gilt der Grundsatz „entweder gebraucht gekauft oder selbst gebaut“. Den noblen Holzregalen sieht man den Eigenbau nicht an. Will sie mit dem Lose-Laden missionieren? Das klingt ihr zu hochtrabend, aber auf Leute einwirken möchte sie schon, damit diese ihre Gewohnheiten überprüfen.

Farben, Formen, Komposition: Wer die Nahrungsmittel sieht, erkennt ihre optische Sinnlichkeit

Neustadt: Nach einer geeigneten Ladenfläche hat sie nur hier und im benachbarten Hechtviertel gesucht. Der potenziellen Kunden wegen. Auch die nur acht Gehminuten entfernte Wohnung spielte eine Rolle. Und in ihrem (viel zu früh) verfassten Testament steht schon, dass ihre Asche einmal im Alaunpark der geliebten Neustadt verstreut werden soll.

Wer kommt in den Laden? „Bei Weitem nicht nur Birkenstock tragende Müslifresser!“ Aber eben doch überwiegend Überzeugungstäter oder Neugierige. Auffallend viele Jüngere, aber auch zahlreiche Ältere, die sich an alte Zeiten erinnert fühlen. Sie bedienen sich selbstsicher, manche reisen aus entfernten Stadtteilen oder aus der Nachbarstadt Radebeul an. Ein Student bedauert, dass es in Leipzig keinen vergleichbaren Lose-­Laden gibt. Eines der Sofas ist immer besetzt, man bringt offensichtlich ein bisschen Zeit mit, plaudert, nimmt einen Kaffee. Entschleunigtes Einkaufen. „Neun von zehn Gästen gehen mit einem Lächeln wieder hinaus“, hat Heller beobachtet.

Beziehung: Formal ist sie nicht verheiratet, aber Berit spricht nur von „meinem Mann“. Seit fünf Jahren (“gefühlte 15“) offenbar ihr Traumpartner und obendrein handwerklich begabt. Er hat die Regale gebaut. Fliesen legen kann er auch und an alte Metallkannen Zapfhähne bauen. Hinter einer engagierten Frau steht immer ein starker Mann.

Plötzlich wird Tara wieder wichtig – das Gewicht des Behälters ohne den Inhalt

Glück? Die Liebe sowieso, aber darüber hinausgehend hat sie es nach langem Anlauf mit dem Lose-Laden endlich gefunden. Erfüllung, Lebensaufgabe, Zukunft. „Ich bin glücklich, wenn ich etwas tun kann, was mit meinen Überzeugungen übereinstimmt!“ Dann nimmt man auch den hohen Aufwand und den nötigen Einsatz in Kauf.

Und wie findet sie Merkel? Nach kurzem Nachdenken sucht sie einen Aufkleber aus der Neustadt, der die Kanzlerin unter der Überschrift „Rabenmutti“ zeigt. Der treffe ihr Verhältnis zu Angela Merkel, deren Kinder- und Schulpolitik sei „das Letzte“. Zudem sei sie viel zu sehr in die USA verliebt. Einen Frauen- oder Ost­bonus billigt Berit ihr jedenfalls nicht zu.

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