Dahin gehen, wo es wehtut

Pflegekräfte und Hebammen können nach Weiterbildung zur „Family Health Nurse“ sozial Benachteiligte zu Hause beraten und begleiten

Menschen ohne Zugang zum Gesundheitssystem aufsuchen

VON MARTINA JANNING

Werner Hartmann ist 73 Jahre alt und seit acht Monaten Witwer. Er hat keine Kinder und lebt allein in einem Reihenhaus am Stadtrand. Seit dem Tod seiner Frau fühlt er sich sehr einsam, kümmert sich nur noch wenig um sich und seinen Haushalt und geht kaum noch vor die Tür. Deshalb kommt seit kurzem zweimal pro Woche eine Familiengesundheitspflegerin zu ihm – verordnet von seinem Hausarzt. Sie versorgt eine chronische Wunde des Diabetikers und hilft ihm außerdem, im Alltag zurechtzukommen. Die Pflegekraft setzt alles daran, das Vertrauen von Werner Hartmann zu gewinnen, ermuntert ihn, regelmäßig zu essen und neue Kontakte zu knüpfen. Anfangs reagiert der Rentner ablehnend, aber nach und nach nimmt er sein Leben wieder in die Hand. Die Gefahr eines sozialen Rückzugs und der Pflegebedürftigkeit ist gebannt – die Familiengesundheitspflegerin verabschiedet sich.

So könnte die Betreuung älterer Alleinstehender und chronisch Kranker aussehen, wenn Familiengesundheitspfleger Wirklichkeit werden. Ein erster Schritt: In Essen und München starten nun Weiterbildungen.

„Es entsteht kein neuer Beruf, sondern ein erweitertes Handlungsfeld für Krankenschwestern, Altenpfleger und Hebammen“, erklärt Claudia Mischke vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) in Berlin. Familiengesundheitspflegerinnen sollen beraten, begleiten und gesundheitliche Kenntnisse vermitteln. Interessentinnen müssen eine dreijährige Ausbildung und zwei Jahre Berufserfahrung in der Gesundheits- und Krankenpflege, Altenpflege oder im Hebammenwesen sowie eine aktuelle Tätigkeit in der ambulanten und häuslichen Pflege, auf Gemeindeebene, im Gesundheitsamt oder in Beratungseinrichtungen nachweisen, um zur Fortbildung zugelassen zu werden.

Zwei Jahre lang büffeln die Teilnehmer berufsbegleitend Dinge wie Public Health, Gesundheitsförderung und -beratung, Entscheidungsfindung, Problemlösung und mehr – auch innerhalb zweier Kurzpraktika. Die Kosten dafür betragen rund 4.300 Euro.

Die Idee: Herkömmliche Angebote der Gesundheitsprävention erreichen vor allem diejenigen, die sich sowieso um ihr Wohlergehen kümmern. Aufgabe von Familiengesundheitspflegerinnen ist es daher, Menschen aufzusuchen, „die nicht unbedingt Zugang zum Gesundheitssystem haben und sich nicht Hilfe holen“, erklärt Mischke. Das können Familien im weitesten Sinne, aber auch Einzelpersonen sein. Im Unterschied zur Einzelfallhilfe in Krisensituationen liegt der Schwerpunkt hier auf Prävention und Gesundheitsförderung, um „mit Krankheiten und chronischen Behinderungen fertig zu werden und in Stresssituationen zurechtzukommen“, umreißt die Weltgesundheitsorganisation WHO das Berufsbild der Family Health Nurse, das sie bereits Ende der 1990er Jahre ausgetüftelt hat.

„In Schottland werden Family Health Nurses sehr positiv aufgenommen“, sagt Diplompflegewirtin Mischke. Nach guten Erfahrungen auf dem Land solle das Konzept nun auf Glasgow und Edinburg ausgeweitet werden. Schon seit 5 Jahren sind Präventivpflegekräfte Teil des Gesundheitswesens in Schottland.

Im deutschen System müssen sie ihren Platz noch finden. Eine Pilotuntersuchung zu Sinn oder Unsinn von Family Health Nurses hierzulande habe zwar ein „deutliches Ja“ ergeben, berichtet Studienleiter Wilfried Schnepp von der Universität Witten-Herdecke: „Wir haben genügend Nischen ausgemacht.“ Es bleibt jedoch die einscheidende Frage, wer Familienpflegerinnen beauftragt und damit auch bezahlt. Antworten darauf soll eine wissenschaftliche Begleitforschung liefern, für die der Inhaber des Lehrstuhls für familienorientierte und gemeindenahe Pflege an der privaten Hochschule drei Jahre Zeit, Geld von der Robert-Bosch-Stiftung und die Unterstützung des Gesundheitsministeriums hat. Große Bedeutung wird in der Untersuchung wohl die Evaluation haben, wo die frisch fortgebildeten Familienpflegerinnen tatsächlich zum Einsatz kommen.

Schnepp macht sich allerdings keine Sorgen, dass Pflegende und Hebammen vergebens in die Weiterbildung investieren. Er sieht Arbeitsfelder nicht so sehr in der Altenpflege, wie sich aufgrund der demografischen Entwicklung vermuten ließe. „Da laufen inzwischen viele Projekte.“ Bedarf bestehe vielmehr bei jungen Familien mit chronischen Krankheiten, Migranten und Familien, deren Gesundheit wegen Armut großen Risiken ausgesetzt sei. Überdies klafften in der Gesundheitsversorgung immer mehr Lücken.

Inzwischen, so Studienleiter Wilfried Schnepp, gebe es sogar Überlegungen, dass Hausärzte Familiengesundheitspflegerinnen anstellen, um den drohenden Ärztemangel in ländlichen Regionen auszugleichen. Ansonsten könnten Family Health Nurses bei ambulanten Pflegediensten, Krankenversicherungen, in Beratungsstellen, Gesundheitsämtern oder auch im städtischen Quartiersmanagement angesiedelt und von Kassen und Kommunen entlohnt werden.

Weitere Informationen zur Family Health Nurse stehen im Internet unter www.familiengesundheitspflege.de und www.i-f-p-muenchen.de