Perfekte Kulisse für Weltkriegsfilme: das zerfallene Wasserschloss Johannstorf   Foto: dpa

Die Spur der Steine

GRENZERFAHRUNG 164 Kilometer mit dem Fahrrad an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze entlang, vorbei an abgeschiedenen Flusslandschaften und wieder aufgebauten Grenzanlagen. Vielerorts ist die Annäherung bedrückend

von Sven-Michael Veit

Es ist ein Weg der Steine, genauer der Gedenksteine. Im Ostseebad Travemünde, am einstigen Grenzübergang im Lübecker Stadtteil Schlutup, der jetzt ein Museum ist, und am Bahnhof Büchen stehen sie entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: Findlinge aus grauem oder rotem Granit.

Bedeutungsschwere Inschriften sind in den Stein gehauen, etwa „Nie wieder geteilt“ über den Landeswappen von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Leicht verwittert steht schon seit 1955 „Büchen Tor zur Freiheit“ auf dem einstigen BRD-Grenzbahnhof an der Transitstrecke zwischen Berlin und Hamburg.

Und wenige Kilometer nordöstlich in der Nähe der Autobahnraststätte Gudow, wo einst der DDR-Grenzkontrollpunkt an der Transitautobahn war, dort also, wo das Sträßchen dritter Ordnung von Fortkrug nach Bröthen durch ein einsames Waldstück führt, erinnern ein Kreuz und ein Gedenkstein an Michael Gartenschläger.

In der Nacht zum 1. Mai 1976 wird der 32-jährige Hamburger Tankstellenpächter wenige hundert Meter entfernt von einem Sonderkommando der Staatssicherheit erschossen. Er versuchte am Grenzzaun eine Selbstschussanlage abzubauen, um die Existenz der Tötungsmaschinen zu beweisen. Die hatte die DDR bis dahin abgestritten. Im März und April gelang Gartenschläger das bereits zwei Mal. Der dritte Versuch wird dem Mann, der in der DDR als politischer Gefangener inhaftiert und 1971 von der Bundesrepublik freigekauft wurde, zum Verhängnis.

Gartenschlägers Leichnam wird im Stasi-Auftrag auf dem Waldfriedhof von Schwerin als „unbekannte Wasserleiche“ beigesetzt. Noch 30 Jahre später, im Frühjahr 2006, lehnt es sein brandenburgischer Heimatort Strausberg ab, eine Straße nach Michael Gartenschläger zu benennen. Auf seinem Gedenkstein am Waldweg steht: „Er rüttelte am Gewissen der freien Welt“.

164 Kilometer lang ist der nordwestlichste Abschnitt der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze von der Ostsee bis zur Elbe. Der einstige Todesstreifen ist in weiten Abschnitten ein grünes Band, denn in dem Niemandsland konnten sich Flora und Fauna nahezu ungestört entwickeln. Jetzt ist er ein Teil des Europäischen Fernradwegs „Eiserner Vorhang“, der auf mehr als 10.000 Kilometer Länge von der norwegisch-russischen Grenze an der Barentssee bis an die bulgarisch-türkische Grenze am Schwarzen Meer führt.

Rund 6.000 Kilometer davon ist Michael Cramer bereits selbst abgefahren, immer so nah wie möglich entlang der Grenze, dennoch möglichst fahrradtauglich und geschichtliche Zeugnisse einbeziehend. Der grüne Europa-Abgeordnete aus Berlin ist passionierter Radler und überzeugter Europäer. Beides inspirierte ihn zu diesem Projekt. „Man muss Erinnerung sichtbar machen“, glaubt der 66-Jährige, „und Geschichte muss man erfahren.“

Sehenswertes an der Strecke:

Grenzmuseum Schlutup im ehemaligen Zollhaus, Mecklenburger Straße 12, Öffnungszeiten Fr+Sa 14 bis 17 Uhr, So 11 bis 17 Uhr, ☎ 0451 / 69 33 990; www.grenze-luebeck.de

Wakenitzfahrten: Reederei Quandt, Wakenitzufer 1c, 23564 Lübeck, ☎ 0451 / 79 38 85; www.wakenitz-schifffahrt-quandt.de

Draegerweg: Eine Beschreibung des Wanderwegs ist zu finden unter www.luebeck-tourismus.de

Grenzhausmuseum Grenzhus, Neubauernweg 1, 19217 Schlagsdorf, Öffnungszeiten Mo-Fr 10 bis 16.30 Uhr, Sa+So 10 bis 18 Uhr, ☎ 038875 / 20 326, www.grenzhus.de

Infozentrum Biosphärenreservat Schaalsee Pahlhuus, Wittenburger Chaussee 13, 19246 Zarrentin, Öffnungszeiten täglich 9 bis 17 Uhr, ☎ 03881 / 302-0, www.schaalsee.de

Dazu gehört für ihn auch „Europas grünes Band“. Wo sich zwei Weltsysteme feindlich gegenüber standen, entwickelte sich – auch in Norddeutschland – die Natur weitgehend ungestört. Große Teile stehen unter Natur- oder Landschaftsschutz, fast die gesamte Strecke ist europäisches Natura-2000-Gebiet. Seit 2005 fördert das Europäische Parlament den Ausbau des Radwegs, der durch 20 Staaten, darunter 15 EU-Länder, führt. „Er ist Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses Europas“, sagt Cramer. Dazu zählt insbesondere die Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, die ehemalige Zonengrenze zwischen Ostsee und Elbe.

Östlich der Travemünder Halbinsel Priwall erstreckt sich ein fast naturbelassener Strand, wie er erst wieder in Polen und im Baltikum zu finden ist. Auf gut 14 Kilometern Länge bis fast zum Ostseebad Boltenhagen war er zu DDR-Zeiten mit Mauern und Zäunen versperrt. Gleich nach der Wende wurden die Dünen und Wäldchen zu oft nur wenige hundert Meter breiten Naturschutzgebieten erklärt – sonst wären sie wohl längst einer durchgehenden Ferienhaussiedlung gewichen.

Nahezu unberührt sind auch die Pötenitzer Wiek und der Dassower See. Diese Buchten der Trave kurz vor ihrer Mündung in die Ostsee gehörten zur BRD, das Ufer aber zur DDR. Weil die Naturschutzgebiete nicht mal mit dem Kajak befahren werden durften, entwickelten sie sich zu artenreichen Vogelbiotopen. Die Bewohner von Pötenitz und Dassow hatten nichts davon: Meterhohe Mauern trennten sie von der Trave, das Gut Johannstorf mit dem Wasserschloss wurde dem Verfall überlassen.

Weil die Zeit dort stehen geblieben scheint, taugte das Schloss 2008 als Kulisse für „Das weiße Band“. Der deutsche Film, der 2009 bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, spielt kurz vor dem Ersten Weltkrieg – und viel moderner sieht Johannstorf in der Tat nicht aus. Immerhin wurde das Gut nicht zerstört wie andere Grenzorte: Vom nur wenige Kilometer entfernten Bardowiek zeugen nur noch Protestparolen auf dem Trafoturm an der Landstraße.

In deutsch-deutscher Abgeschiedenheit hat die Wakenitz ihren Charme bewahrt, wenngleich der gern bemühte Begriff „Amazonas des Nordens“ ein wenig hoch gegriffen ist. Wie schon der aus dem Slawischen stammende Name „Barsch-Fluss“ nahelegt, ist das nicht einmal 15 Kilometer lange Grenzflüsschen, das aus dem Ratzeburger See kommt und in Lübeck in die Trave mündet, fischreich. Am besten ist der oft nur 30 Meter breite Fluss mit dem Kanu oder den flach gehenden Ausflugsschiffen der Reederei Quandt von Lübeck bis Rothenhusen am Ratzeburger See zu erkunden. Das Westufer zieren drei Ausflugslokale – sie sind auch zu Fuß auf dem 18 Kilometer langen Drägerweg erreichbar. Das Ostufer ist von undurchdringlich scheinendem Unterholz bewachsen.

Mit dem Fahrrad am ehemaligen Eisernen Vorhang entlang von der Barentssee zum Schwarzen Meer führt Michael Cramer in den Bikeline-Radtourenbüchern „Eiserner Vorhang“ („Iron Curtain Trail“) im Verlag Esterbauer, www. ironcurtaintrail.de

Die Erstauflagevon 2007 wird gerade überarbeitet und erscheint nun in fünf Bänden.

Die dritte Etappe: „Deutsch-Deutscher Radweg. Am grünen Band von Lübeck nach Hof“ ist jetzt erschienen. 200 Seiten mit präzisen Karten und Wegbeschreibungen, laminiert, Spiralbindung, Maßstab 1:85.000, 15,90 Euro.

Die vierte Etappe: „Eiserner Vorhang: Von Hof nach Szeged“ erscheint im September, 172 Seiten, 15,90 Euro.

Die zweite Etappe: „Eiserner Vorhang: Von Riga nach Lübeck“ erscheint voraussichtlich im November.

Anfang und Ende: Die Etappe vom Nordmeer nach Riga und die Etappe von Szeged ans Schwarze Meer erscheinen nächstes Jahr.

Früher warnten dort die schwarz-roten Grenzpfähle der DDR vor dem Anlanden im realsozialistischen Teil Deutschlands – jetzt lugt gelegentlich ein Nandu durch den Blätterwald. Anfang des Jahrtausends brachen einige der südamerikanischen Laufvögel von einer Straußenfarm auf der schleswig-holsteinischen Seite aus, inzwischen bevölkern mehr als 100 wildlebende Tiere beide Ufer. Gejagt werden dürfen sie nicht und Fressfeinde haben sie keine – eine Erfolgsgeschichte der Zuwanderung ins vereinte Deutschland.

Eine Lichtung auf dem West­ufer wenige Kilometer weiter zeugt von einem Verlierer der Wiedervereinigung, dem Weiler Nädlershorst, der im Volksmund „Russische Botschaft“ hieß. Ein russischer Kriegsgefangener auf einem Gut in Mecklenburg floh im Mai 1945 vor der anrückenden Roten Armee über die Wakenitz nach Westen. In Nädlershorst betrieb er später eine kleine Schankwirtschaft – die Russische Botschaft. 2003, ein Jahr nach seinem Tod, mussten die letzten zehn Einwohner der 320 Meter langen Wakenitzbrücke weichen, die zur Ostseeautobahn A 20 gehört, dem größten Projekt des „Verkehrsprogramms Deutsche Einheit“. So hat jede Epoche ihre Opfer.

Mit der deutsch-deutschen Vergangenheit setzt sich das „Grenzhus“ auseinander, das Museum der innerdeutschen Grenze nordöstlich von Ratzeburg in Schlagsdorf. Die Grenze verlief vor dem Dorf durch den Mechower See, den die Dorfbewohner nur ansehen durften. Mehr als 40 Jahre lang war das Baden verboten. Auf einem fußballfeldgroßen Freigelände sind Grenzanlagen mit Originalteilen nachgebildet: Metallgitterzaun, KFZ-Sperrgraben, Beobachtungsbunker, Wachtürme, Betonsperrmauer. Je nach Gelände waren diese Grenzstreifen zwischen 100 Meter und zwei Kilometer breit. In Schlagsdorf kann man diese Zone von Osten und Westen betreten. Bedrückend sind beide Annäherungen.

In Lauenburg endet die erste Etappe der Radtour an der Elbe – die ersten 164 von 1.393 deutsch-deutschen Kilometern sind geradelt und ihre Gerschichte ganz im Sinne Michael Cramers „erfahren“.