„Das misst sich nicht am Abitur“

Für Johanna Wanka, Präsidentin der Kultusministerkonferenz, hat der Zugang zum Abitur nicht viel mit Chancengerechtigkeit zu tun. Trotzdem: „Pisa hat uns aufgerüttelt“

taz: Frau Wanka, seit Pisa 2000 sind die deutschen Schüler ein wenig besser in ihren Leistungen geworden. Aber die soziale Selektivität der Schulen hat sich laut der aktuellen Studie Pisa 2003 keinen Deut verbessert. Sind Sie zufrieden?

Johanna Wanka: Damit kann man nicht zufrieden sein. Es war für uns alle in der Kultusministerkonferenz damals das deprimierendste Ergebnis, dass der Bildungserfolg in Deutschland so eng an die soziale Herkunft gekoppelt ist. Deswegen haben wir gemeinsame Handlungsfelder definiert, also etwa die Verbesserung der Bildung in Kindergärten oder individuelle Förderung in der Grundschule.

Das sind alles wichtige Weichenstellungen. Aber wird die Kultusministerkonferenz das Fördern der Risikoschüler zu ihrem Schwerpunkt machen?

Das haben wir bereits getan. Wir verbessern zum Beispiel die Diagnosefähigkeit der Lehrer, damit diese frühzeitig erkennen, welche Schüler gefördert werden müssen. Das haben wir schon 2001 beschlossen – allerdings kann sich das bei den 15-Jährigen noch nicht auswirken.

Laut der Studie haben hierzulande Oberschichtkinder eine viermal größere Chance aufs Gymnasium als Unterschichtkinder. Ist denn da noch die Chancengerechtigkeit gewahrt?

Was verstehen Sie unter Chancengerechtigkeit?

Ich wollte das von Ihnen wissen: Sind die Chancen für alle Schichten auf gute Bildung gewahrt?

Für mich ist entscheidend, dass jedes Kind in Deutschland gemessen an seine individuellen Fähigkeiten die beste Förderung bekommt. Es soll Kompetenzen erwerben, um sich lebenslang in der Arbeitswelt zu behaupten oder um zu studieren. Die Tatsache aber, ob ein Kind Abitur macht, ist nur ein Indiz, wenn man über Chancen spricht. Wichtiger ist die Durchlässigkeit. Wenn sich ein Kind entwickelt, muss es die Chance haben, auch später eine Studienberechtigung zu erwerben.

Hat heute schon jedes Kind die Möglichkeit, diese Ziele zu erreichen?

Die Chancengerechtigkeit in Deutschland muss besser werden.

Kennen Sie Artikel 2 und 3 des Grundgesetzes, in denen die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Gleichheit aller festgehalten sind?

Na und. Was hat das mit dem Abitur zu tun?

Ist das Grundgesetz denn erfüllt, wenn die Schule Oberschichten beim Abiturzugang privilegiert?

Ja, weil ich es ablehne, zu sagen, dass sich eine gerechte Bildungsbeteiligung nur am Zugang zum Abitur misst. Das ist mir zu altmodisch. Laut OECD liegt Deutschland bei der Bildungsbeteiligung, die nicht allein das Abitur zählt, auf dem dritten Platz in seinen Mitgliedsstaaten.

Wie geht’s weiter? Was können Sie den Eltern der heute 13-Jährigen sagen, die bei Pisa 2006 getestet werden?

Die Sensibilität der Lehrer ist geweckt. Und auch den Kultusministern brennt die Chancengleichheit auf den Nägeln. Es wird eine Vielzahl von zusätzlichen Maßnahmen geben – in den jeweils zuständigen Bundesländern.

Ist es notwendig, dass auch der Bund Schulkompetenzen hat – etwa um ein Sofortförderprogramm für Risikoschüler aufzulegen?

Nein. Es gibt genug Anstrengungen der einzelnen Bundesländer. Und ich verspreche Ihnen: Das hat uns aufgerüttelt.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER