Großes Drama und große Vielfalt

Favourites Film Festival Die Kulturfabrik Moabit zeigt ein Best-of der Publikumspreise im internationalen Filmfestivalreigen

Meira darf keinen fremden Männern in die Augen sehen. Die junge kanadische Frau lebt in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft, die strengen Regeln folgt. Gebete und Rituale bestimmen den Alltag, die Rollen und Aufgaben sind klar verteilt. Meira ist verheiratet und soll möglichst viele Kinder bekommen. Heimlich nimmt sie die Pille und hört verbotene Schallplatten. Ihr Ehemann liebt sie, doch ihre Widerspenstigkeit überfordert ihn. Als sie bei ihren Spaziergängen Félix kennenlernt, betritt sie eine ihr fremde Welt. Sie hören Musik, gehen tanzen, Meira trägt zum ersten Mal eine Hose. In dem Spielfilm geht es nicht darum, Gut gegen Böse zu stellen. Er zeigt Strukturen, die wenig Freiraum zulassen. Auch Félix ist in seiner reichen Familie in der Rolle des Außenseiters. Er arbeitet nicht, lebt in den Tag hinein. Zu seinem Vater, der im Sterben liegt, hatte er viele Jahre lang keinen Kontakt.

Der Film „Félix et Meira“ von Maxime Giroux eröffnete gestern das „Favourites Film Festival“, das dieses Jahr zum fünften Mal in der Kulturfabrik Moabit stattfindet. Die Leiterinnen Anna Jurzik und Paula Syniawa befolgen ein Konzept, mit dem sie nicht viel falsch machen können. Sie zeigen aktuelle Filme, die bereits bei anderen Festivals im In- und Ausland einen Publikumspreis gewonnen haben. Auch beim Favourites Film Festival dürfen die BesucherInnen abstimmen. Am Sonntag wird der Gewinnerfilm wiederholt.

Die Auswahl ist tatsächlich großartig. Es sind heftige Geschichten, die aufwühlen und bewegen. Sie spielen an Orten auf der ganzen Welt und werden in vielen verschiedenen Sprachen erzählt. Darunter finden sich Spiel-, Dokumentar- und Animationsfilme. Am Samstag zeigen die Veranstalterinnen eine Reihe von Kurzfilmen. Vielfalt ist ihnen wichtig. Zudem gibt es eine Drehbuchlesung und ein Filmtablequiz. Trotz des breiten Spektrums wirken die Filme nicht wie zufällig ausgesucht.

Viele Geschichten handeln von der Hoffnung auf ein besseres Leben, wie zum Beispiel der französische Spielfilm „Party Girl“. Die Mutter einer der drei Regisseure spielt sich dabei selbst. Die Anfang 60-Jährige raucht und trinkt viel. Sie hat ihr ganzes Leben lang in einem Strip­lokal gearbeitet, und noch immer feiert sie die Nächte durch. Ihr Leben verändert sich schlagartig, als ein Freund und Verehrer um ihre Hand anhält und sie sich für einen Neuanfang entscheidet. Doch sie hat große Zweifel. „Ich habe Angst, dass es ein Fehler ist“, sagt sie. Leicht wird es in der Tat nicht. Sie muss die Hochzeit vorbereiten und will ihre Kinder dazu einladen. Die jüngste Tochter haben die Behörden ihr vor vielen Jahren weggenommen.

Während „Party Girl“ zum Teil auch witzig ist, zeigt der Spielfilm „Hope“ von Boris Loj­kine die brutale Realität zweier Menschen auf ihrer Flucht nach Europa. Die junge Nigerianerin Hope wird von anderen Geflüchteten belästigt, Schlepper missbrauchen sie. Léonard aus Kamerun rettet sie, als sie in der Wüste zurückgelassen werden soll. In den Migrantengettos in Algerien herrschen korrupte Verwalter, die ihnen ihr Geld abnehmen. Ständig müssen sie sich verstecken.

Beklemmend ist auch der russische Dokumentarfilm „Some­thing better to come“ über Obdachlose auf einer Müllhalde. Die Hauptperson ist das Mädchen Yula, die am Anfang des Films 11 Jahre alt ist, am Ende 25. Die Filmemacherin Hanna Polak kommt ihren Protagonisten erschreckend nah. Sie filmt die Kinder im Dreck, die rauchen und Alkohol trinken. Wie die Mutter Yula erzählt, dass sie soeben vergewaltigt wurde. Menschen sterben vor Kälte und Krankheiten. Traktoren überfahren sie. Man sieht verkohlte Leichen. Der Film macht fassungslos. „Es ist keine Müllhalde, sondern ein Sumpf. Er saugt dich ein“, sagt Yula.

Julika Bickel