„Kultur und Terror“

VORTRAG Jörg Wollenberg dokumentiert bemerkenswerte Zeugnisse von Kultur in KZs

■ ist emeritierter Professor der Universität Bremen. Das Foto zeigt die von Kurt Schumacher geleitete Bibliothek im KZ Dachau

taz: Herr Wollenberg, wie war es möglich, dass sich in Konzentrationslagern ein reges Kulturleben entwickeln konnte?

Jörg Wollenberg: In den deutschen KZs setzte die SS nicht nur auf Terror und Ausbeutung, sondern auch auf Umerziehung, auf „Gegnergewinnung“. Das lässt sich schon bei den frühen KZs wie in Bremen in den Mißler-Hallen beobachten. Insofern verstanden sich die KZs, zumindest in Himmlers Machtbereich, auch in der Tradition der preußischen Zuchthäuser mit ihrem Umerziehungsanspruch.

Aber in vielen Lagern ging es ja, zumindest ab den 40er-Jahren, nicht um „Besserung“, sondern um Vernichtung!

Trotzdem hatte Auschwitz drei Orchester und Dachau eine Bibliothek mit 18.000 Bänden, in der man sogar Tucholsky, Karl Kraus und Heinrich Mann lesen konnte – also Bücher, die verboten waren.

Widerspricht das nicht dem Umerziehungsgedanken?

Die SS-Leute haben die Bibliotheken ja nicht betreten, da arbeiteten Häftlings-Bibliothekare wie Julien Cain, der zuvor Direktor der französischen Bibliothèque Nationale war. Verbotene Bücher wurden über Besucher und neue Häftlinge hinein gebracht. In Dachau beispielsweise gab es regelmäßige Besuchstage.

Und dabei war die Kontrolldichte weniger dicht, als man sich das so vorstellt?

Ja. Außer bei den Arbeitseinsätzen der KZ-Insassen, die streng von der SS kontrolliert wurden.

Bei technischen Ausstattungen wie einer versenkbaren Bühne in Auschwitz muss es darüber hinaus eine bewusste Unterstützung durch die KZ-Leitung gegeben haben.

In der Tat. Manche Lagerleitungen förderten Musik und Theateraufführungen, die dann von den Funktionshäftlingen und Wachmannschaften gleichermaßen besucht wurden. In Sachsenhausen wurde beispielsweise der „Faust“ gegeben. Der Bremer Edgar Bennert führte Regie und spielte die Hauptrolle.

Ging es aus Sicht der Lagerleitung auch um Regeneration zum Erhalt der Arbeitskraft?

Durchaus. Aber gleichzeitig stellte das für die Häftlinge eine Überlebensstrategie dar – bei der natürlich auch ungeheuer viel Selbsttäuschung zum Tragen kam. Aber was will man in so einer Situation sonst machen? Die jüdischen Mitwirkenden an Goebbels-Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ fühlten sich in Theresienstadt sozusagen wie Filmstars. Nach der Fertigstellung wurden sie in die Gaskammer geschickt.

Warum ist dieses komplexe und ambivalente Thema bisher relativ wenig analysiert worden?

Die Zeugnisse von Kulturerlebnissen im KZ sind in den Erinnerungen von Überlebenden sehr präsent, nicht aber in der historischen Aufarbeitung. Im deutschen Bewusstsein können Terror und Kultur eben nicht zusammen gedacht werden.INTERVIEW: HENNING BLEYL

20 Uhr, Villa Ichon