Mutter und andere Biester

Was es in Lokalen zu belauschen gibt. Eine norddeutsche Nebentischreportage

Wir beginnen mit unserer Recherche in der Metropole, auch Nebentischmekka des Nordens genannt. Was ist los an Norddeutschlands Nachbartischen? Wie denkt man über Merkel, Schröder und die Fußball-WM? Den DAX oder wie das Dinx heißt? Keine Mühen gescheut: Tapfer bestellt und das Ohr immer dicht am Puls des Nachbarn. Das ist das richtige Leben.

1. Hamburg, Weinkeller: Draußen regnet’s – ein Satz, den man in Hamburg nicht eigens sagen muss. Drinnen lassen wir uns bei großem Platzangebot direkt neben dem einzig besetzten Tisch nieder. Das sieht der distanzierte Hanseat nicht gern und versucht, uns durch laute Gespräche zu verscheuchen: „Wegen 1.500 Euro lass ich mir die Existenz nicht vernichten“ – „Der Helmut ist wegen zehn Riesen in’n Bau gegangen, die Idioten haben ihm ihr ganzes Geld gegeben.“ Hoppla. Im Verlauf des Gesprächs stellt sich heraus, das sowohl Sprecher wie Besprochene allesamt Juristen sind. Eine Branche ernährt sich selbst. In Deutschland ist eben doch nicht alles in Unordnung.

2. Hamburg, Sternerestaurant: Upps! Hier muss man sich vor dem Kellner fürchten, der mürrisch auf mangelnden Weindurst reagiert, obwohl es doch erst Mittag ist. Aber die Spesenrechnung! Am Nebentisch sitzen seit Tagen zwei Rentnerpaare, die sich darüber echauffieren, dass der Nachbar zwar die Hecke schneidet, aber den Heckenschnitt nicht wegräumt. Nie. Die angebotenen Speisen putzen die Pensionäre ohne zu zögern ratzekahl weg, scheinen sich jedoch nicht weiter an deren Qualität zu erfreuen. Nicht, solange der Nachbar den Heckenschnitt nicht wegräumt.

3. Husum, Hotelrestaurant: Die behäbigen Norddeutschen am Nachbartisch sprechen Schwäbisch und bestellen Schnitzel und Dunkelbier statt Matjes mit diesem bitteren Bierersatzersatz aus grünen Flaschen, der schmeckt wie aus Strandhafer gebraut. Aus altem, zähen Strandhafer, der schon im Pflegeheim gelebt hat. Jetzt will ich gar nicht mehr hören, was sie sagen. Diese Seniorentellerbesteller. Süddeutsche aus Überzeugung, die haben bestimmt Stoiber gewählt, obwohl das gar nicht ging. Ahhh – jetzt habe ich es doch gehört: „Es regnet“, sagen sie, als hätten sie hier nichts Besseres erwartet.

4. Nordseeküste, gutbürgerlich. Am Nebentisch findet die örtliche Kinderdressur mit Schaulaufen statt. Nicholas und Marlon sprechen Englisch. Obwohl sie erst sechs und acht sind! Trotzdem wollen sie lieber Fritten als Hummersalat, die kleinen Schelme. Bei jedem dritten Wort wird ihnen der Mund verboten. „Alter, das sagt man doch nicht“, rüffelt die gepflegte Mutter pikiert. Alter Falter, da hat sie aber auch wirklich Recht.

5. Nordseeküste, kurz vor Feierabend: Gleich hinter uns hockt das Personal: Die Hilfsköchin, der Chefkoch und ein irgendwie assoziierter männlicher Mensch, den wir hier das Opfer nennen wollen. Der schnell erkennbare Gesamtpegel des Tischs lässt uns um unsere Bestellung fürchten, aber die Hilfsköchin kriegt das mit der Mikrowelle noch einwandfrei hin, während sich die Herren unterhalten. Das heißt, der große, dicke Koch quakt haltlos auf das stark angeschlagene Opfer ein. „Diese Frau“, sagt er, aber sehr langsam und sehr norddeutsch, „diese Fraaaooouu – iss dein Ruuuiiiiin!“ Im Laufe der nächsten Stunde wiederholt er seine Einsicht noch ein paar mal, aber das Opfer nuschelt nur vor sich hin. „Auf den Menschen kommtas an!“, bestimmt der Koch zwischendurch, und als weder Zustimmung noch Widerrede folgen, schiebt er ein ebenso gewichtiges wie überraschendes „Tolstoooiii!“ nach. Und diese Fraaaooouu ist immer noch der sichere Ruin, aber weil das Opfer das nicht einsehen will, muss es ihm bewiesen werden. „Du hattest doch mal dieses Mädel …“ – „Deine Mutter“, fährt der Angesprochene rasch zur Ablenkung dazwischen. „Meine Mudder war ’n Biest“, kurz und trocken wird der Einwand abgekocht, ehe es erbarmungslos weitergeht: „Du hast doch mal dieses Mädel – aus Hamburg da – auf deinem Wohnzimmertisch gevögelt. Auf deinem Tüsch, deinem Tüsch, deinem Woooohnssimmertüsch! Das weissu doch noch?“ Doch, er kann sich gerade noch erinnern. „Hattest du doch gemacht, nicht? Hatte sie doch gesehen, nicht? Und hat sie dir verziehen?“ Das Opfer ist froh, auch etwas Gutes über die angefeindete Freundin sagen zu können. Ja, sie hat es ihm verziehen. „Siehssu“, trumpft der Koch auf, „wenn man jemanden liebt, dann verzeiht man ihm so was nicht. So was nicht!“ Der Chor aus Hilfsköchin und Kellner gibt ihm Recht, denn, was er sagt, ist logisch. Das Opfer lächelt, warum nur, irgendwie geschmeichelt. Schon purzelt die ganze Gesellschaft in ein Taxi, um anderswo weiterzutrinken und noch ein paar Schöpfkellen voller Lebensweisheit miteinander zu teilen. Und wir sind ja plötzlich so was von satt. SUSANNE FISCHER