„Im Keim unterdrückt“

DISKUSSION Die langjährige China-Korrespondentin Jutta Lietsch erklärt uns das Reich der Mitte

■ geboren im Jahr des Drachens (1950), war von 1990–1996 Redakteurin der taz, lebte seitdem in China als Korrespondentin für die taz und andere Medien, kehrte 2012 nach Berlin zur taz zurück.

taz: Wenn über China berichtet wird, dann klingt das oft so, als könnte ein Staat die ganze Gesellschaft steuern.

Jutta Lietsch: Das ist ein verbreitetes Bild, die Kommunistische Partei will sich auch so einig darstellen – zuletzt auf dem Parteitag im November. Die Herren sind sogar gleich gekleidet. Das nehmen manche für bare Münze. In einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen und in einer KP mit 80 Millionen Mitgliedern gibt es aber viele Interessenkonflikte.

China ist inzwischen ein kapitalistisches Land – ohne entsprechende politische Struktur.

Die Herrschaftsstrukturen sind streng leninistisch. Die Partei hat es geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden, indem sie neuen Wein in alte Schläuche füllte. Es gibt ein historisches Gefühl, dass nur eine starke zentrale Kraft das Auseinanderfallen des Landes verhindern kann.

Das ist die Rechtfertigung jeder Militärdiktatur.

Die chinesische Regierung bemüht sich, alternative Strukturen im Keim zu unterdrücken, beobachtet scharf Bürgerinitiativen und Vereine. Viele, die sich über ihre Provinz-Funktionäre ärgern, glauben, dass die Zentralregierung eingreifen würde, wenn sie nur wüsste, was vor Ort geschieht.

Sind solche Herrschaftsstrukturen in Zeiten elektronischer Kommunikation durchzuhalten?

Es hat sich vieles mit dem Internet verändert, das stimmt. Aber die Behörden holen die besten Köpfe von den Universitäten, um das Internet zu kontrollieren. Sie beschäftigt nicht viele eigene Zensoren, sondern droht den Internetportalen mit Lizenzentzug, wenn sie keine Selbstzensur ausüben. Zudem gibt es einen Populismus der KP: Wenn ein lokaler Funktionär durch großen Reichtum auffällt, den er nicht legal verdient haben kann, dann wird er manchmal abgesetzt. Aber bei führenden Funktionären wird das Internet streng zensiert, wenn heikle Informationen verbreitet werden.  Interview: KAWE

20 Uhr, „Europapunkt“, Bürgerschaft. Von Jutta Lietsch erschien 2007 das Buch „Das andere China“