Das überwundene Trauma

SKISPRINGEN Mit Severin Freund gewinnt nach 13 Jahren erstmals wieder ein Deutscher das Auftaktspringen der Vierschanzentournee. Vom neu dazugewonnenen Selbstvertrauen erhofft sich die gesamte deutsche Mannschaft einen weiteren Schub nach vorn

Großer Sprung, kleine Emotionen: Severin Freund konnte hernach nichts Besonderes an seinem Erfolg erkennen Foto: Matthias Schrader/ap

aus Oberstdorf Klaus-Eckhard Jost

Unterschiedlicher hätten die Stimmungslagen in Oberstdorf nicht ausfallen können. Die 25.500 Besucher hatten das Stadion an der Schattenbergschanze in einen großen Festsaal verwandelt. Lautstark sangen sie die deutsche Nationalhymne mit, die für Severin Freund gespielt wurde. Der 27-Jährige hatte in einem packenden Finale das Auftaktspringen der Vierschanzentournee gewonnen. Schon danach schallte es aus vielen Kehlen: „Oh, wie ist das schön.“

Wie tief diese Momente Severin Freund bewegt haben, lässt sich nur erahnen. Zwar sprach er von einer ganz speziellen Siegerehrung, von einer bombastischen Stimmung, aber dies klang aus seinem Mund sehr nüchtern. Von großen Emotionen keine Spur. Dieser Weltcupsieg wecke keine größeren Gefühle in ihm wie die 20 Erfolge davor.

Und doch war er etwas Besonderes. 13 Jahre hatten die deutschen Springer vergeblich versucht, ein Auftaktspringen der Tournee zu gewinnen – auch Severin Freund. Bis zum Dienstag. „Das hat vor allem letztes Jahr schon wehgetan“, sagte Bundestrainer Werner Schuster. „Wir räumen auf mit den Altlasten“, sagte Freund mit etwas Erleichterung in der Stimme, „es hat eh lang genug gedauert.“

Nach dem ersten Durchgang sah es noch so aus, als ob die Serie fortgesetzt würde. „Im allerersten Moment nach Severins Absprung hatte ich gedacht, dass dieser Sprung nichts mehr würde“, sagte Bundestrainer Werner Schuster. Doch der Weltmeister rettete sich auf 126 Meter und Platz 5. Weil der große Favorit Peter Prevc sich nicht wie gewohnt absetzen konnte, blieb ein Funken Hoffnung. Oder wie es Schuster ausdrückte: „Es war nichts kaputt.“

Im zweiten Durchgang geschah dann Ermutigendes. Andreas Wellinger, Stephan Leyhe und Andreas Wank mussten hintereinander springen, und alle drei konnten sich gewaltig steigern. „Das waren unsere Eisbrecher“, sagte Schuster in seiner Analyse am Morgen danach. „Severin hat das im Container mitbekommen, das gab ihm Sicherheit.“

Wie schwer die Vierschanzentournee als Trauma auf der deutschen Mannschaft lastete, lässt sich aus Andreas Wanks Worten erahnen. „Wir hatten am Anfang einen schweren Start, weil wir nichts falsch machen wollten.“ Coach Schuster hatte sich das eigentlich anders vorgestellt. „Man kann auch alles zerreißen wollen“, sagte er. Letztlich war er mit dem Vorgehen der Springer zufrieden. Kein Wunder bei diesem Ausgang. „Darauf bin ich stolz“, sagte er.

Was ihn ebenfalls stolz macht, ist die Entwicklung. „Wir versuchen uns zu emanzipieren von unserer Vorgängergeneration“, sagt Schuster. Damit meint er Springer wie Jens Weißflog, Martin Schmitt und Sven Hannawald. Dass dies nicht immer leicht ist, zeige sich momentan im österreichischen Team. „Stefan Kraft und Michael Hayböck sind hervorragende Springer, aber sie werden immer mit Thomas Morgenstern und Gregor Schlierenzauer verglichen.“

Es ist der Versuch, sich von der Vor­gängergeneration zu emanzipieren

Noch ist der Weg bis zum möglichen Gewinn des Skisprung-Klassikers weit, doch der Trainer strahlt nach dem gelungenen Auftakt Zuversicht aus. Er sagt: „Severin wird mit jedem Erfolg mental stärker.“ Entscheidend für seine Entwicklung sei der Teamwettbewerb in Sotschi 2014 gewesen, als er als vierter Springer olympisches Gold sicherte.

Ein entscheidendes Signal hatten Schuster und seine Trainerkollegen zudem im Sommer gegeben, als sie sich mit dem Team sehr intensiv mit der Vierschanzentournee auseinandergesetzt hatten. Dabei ging es nicht nur darum, die Tournee mit Springen auf allen vier Schanzen in kurzer Zeit zu simulieren. „Es war ein Zeichen für die Springer, dass wir uns intensiv mit diesem Thema beschäftigen“, sagt Schuster.

Während das Springen in Oberstdorf für die Psyche unheimlich wichtig war, wurde am Tag danach auch auf die körperliche Balance geachtet. Am Nachmittag stand ein leichtes Krafttraining auf dem Programm. Schließlich war Severin Freund in den vergangenen Jahren auch an Problemen am Rücken gescheitert. Dies soll nicht wieder passieren. Denn irgendwie hat ihn die Atmosphäre in Oberstdorf süchtig gemacht. Süchtig nach mehr. Am liebsten würde er es schon beim Neujahrsspringen wieder genießen.