Piefkes halten an Ösi-Unis bald Mehrheit

Deutsche Medizinstudenten emigrieren massenhaft an Österreichs Hochschulen, seitdem die EU Austrias Inländerprivileg aufgehoben hat. In Innsbruck sind bereits drei Viertel der BewerberInnen für Medizin Deutsche. Sie verdrängen die Einheimischen – und italienische Studierwillige aus Südtirol

AUS WIEN RALF LEONHARD

Hörsaal II im Anatomischen Institut der Medizinischen Universität Wien ist bis zum letzten Platz besetzt. Gute 300 drängen sich im Amphitheater. Einige Hörer müssen sich auf die engen Stiegen zwängen. Dozent Harald Herkner, im Hauptberuf Notfallmediziner am Allgemeinen Krankenhaus, kann sich in seiner Vorlesung über Evidence Based Medicine nur mühsam Gehör verschaffen. Und in naher Zukunft wird er es am besten tun, indem er sein österreichisches Idiom so behutsam wie möglich einsetzt – denn hier sind bald die Hälfte deutsche Studierende. In einer regelrechten Invasion kommen Piefkes als Studienflüchtlinge über die Grenze.

In der Mensa sitzt die blonde Pia, 21, aus Heidelberg mit drei Freundinnen. Der Notenschnitt ihres Abiturs reichte nicht fürs Studium der Medizin in Deutschland. Aber Pia hat eine österreichische Mutter und daher einen österreichischen Pass. Das verschafft ihr so etwas wie einen moralischen Anspruch auf einen Studienplatz in Wien. Pia mahnt, es solle sich keiner aufregen. „Man muss das positiv werten, dass wir hier Medizin studieren wollen“, sagt sie unbekümmert. „Mittlerweile ist es doch normal, dass man in Konkurrenz lebt.“ Wien findet sie super. Sie fühlt sich wohl, ein feindseliges Klima unter Studenten kann sie nicht ausmachen. Noch nicht.

Aber der Wettbewerb wird infolge eines Gerichtsbeschlusses härter. Anfang Juli monierte der EU-Gerichtshof in Luxemburg die österreichische Zulassungspraxis. Es verstoße gegen EU-Recht, den freien Zugang zu den Hochschulen Austrias auf eigene Staatsbürger zu beschränken. Daher hatten die Österreicher bis dahin auch weder Numerus Clausus noch andere Ausleseverfahren gebraucht. In Deutschland aber saßen tausende AbiturientInnen, die keinen Studienplatz bekommen hatten, in Erwartung des Urteils in den Startlöchern.

Wien spürte die Welle des deutschen Medizineransturms in diesem Sommer noch am wenigsten. Von den 1.560 Studienplätzen an der Medizinischen Universität wurden nur 267 an Deutsche vergeben. Das sind 17 Prozent. Allerdings: Von den 2.650 Interessierten kam bereits rund die Hälfte aus Deutschland.

Ähnlich in Tirol. An der Medizinischen Universität Innsbruck stammen nicht weniger als 1.295 oder 75,3 Prozent Bewerbungen von deutschen Numerus-Clausus-Flüchtlingen. Nur durch die Einführung des eigentümlichen Qualitätskriteriums „früher Poststempel“ konnten die Einheimischen ihre Mehrheit sichern. Jetzt halten sich Österreicher (260) und Deutsche (249) knapp die Waage. 21 Studierende kommen aus anderen Staaten. Durch die Finger schauten Studenten aus dem italienischen Südtirol, die traditionell in Innsbruck studieren. Die konnten beim Rennen um die Poststempel wegen ihrer späten Abiturtermine nicht mithalten.

Österreichs Abwehrmaßnahmen sind unentschlossen. In aller Eile hatte Bildungsministerin Elisabeth Gehrer, ÖVP, zwar einzelnen Unis erlaubt, Zugangsbeschränkungen einzuführen. Aber die beschränken sich bislang aufs Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Nächtelang lagerten also im Juli die zukünftigen Doctores auf dem Universitätscampus, um einen Platz zu ergattern, bevor Luxemburg die Schleusen öffnete. Bald wird dies wohl nicht mehr ausreichen.

Speziell ist das Ausleseverfahren in Graz. Das elektronische Vorerfassungssystem registrierte 2.937 Personen, die ihr Interesse an einem Medizinstudium bekundeten. Nicht weniger als 1.918 (65,3 Prozent) dieser Bewerbungen wurden aus Deutschland eingereicht. Das dicke Ende kommt freilich im Januar, wenn die Hörerinnen und Hörer durch das feinmaschige Sieb von Eignungstest, Kenntnistest und Prüfungsleistungen im ersten Halbjahr gedrückt werden. Denn es gibt nur 300 Plätze. Dass davon zwei Drittel bereits von jenen gebucht sind, die letztes Jahr nicht zum Zuge kamen, zeigt den Druck, der auf dem System liegt.

Bildungsministerin Gehrer, inzwischen zum unbeliebtesten Kabinettsmitglied abgestiegen, schiebt alle Verantwortung von sich. Ihre Bemühungen, eine EU-konforme Lösung zu erwirken, die inländische Studierende privilegieren würde, werden von der Opposition als Scheinaktionen gesehen. Für SPÖ-Bildungssprecher Josef Broukal ist die ÖVP über das Luxemburger Urteil sogar froh – denn es ermöglicht ihr, den freien Zugang zur höheren Bildung wieder zu beschränken, ohne selbst dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen.