Im Anwohnerpark

MANJA PRÄKELS

Teil 21: Oma Heinrich fliegt ins Weltall

Der Weltraum.

Unendliche Weiten.

„Und ich bin ausgerechnet hier gelandet.“

Charlotte Heinrich, geborenen Roth, im ganzen Kiez nur als Oma Heinrich bekannt, stand staunend auf dem Dachboden und blickte durch eine kleine, zerkratze Luke zu den Sternen hinauf. Wie lange hatte sie in der Schwerelosigkeit zugebracht? Wo war ihr Raumanzug verblieben? Vorsichtig betastete Charlotte ihr Gesicht. Keine Schwellungen. Nein, nichts Auffälliges. Ihr Blick entglitt erneut nach oben, wo die Sterne nun mit der Dunkelheit zu schwinden drohten, so, wie ihre Erinnerung an die vergangene Nacht.

Morgendämmerung. Der Fuchs tänzelte an den Mülltonnen vorm Supermarkt vorbei in Richtung Friedhof, um sich von seinem erfolgreichen Beutezug zu erholen. Als Sprottenpeter beduselt die Tür des blaulichthinter sich zu schlug, hetzte der Jäger erschrocken davon. Vergeblich hatte Peter versucht, Fritze zum Aufstehen zu bewegen. Der lag nun drinnen auf der Couch. War in der neunten Runde K. O. gegangen. Der Seebär setzte sich auf die Treppenstufen vor seinem Stammlokal, drehte in aller Seelenruhe eine Zigarette und beobachtete die erwachende Straße. In der Kaufhalle schleppten die Frauen bereits Konserven durch die Gänge. Ein erster Flaschensammler fand sich ein. Verschlafene Mütter und Väter schoben Kinderwägen über das Pflaster, putzten Nasen und warteten entnervt auf den forschenden Nachwuchs:

„Guck mal, Mama, ein Stein!“

Nüchtern werden. Beim Gedanken an den merkwürdigen Besuch der alten Dame, bekam Peter einen Lachanfall. Wie ehrfürchtig alle verstummt waren! Ein bisschen, als würde eine gestrenge Lehrerin aus der Kindheit wieder auftauchen. Und die Tresenhocker waren plötzlich zehn, hatten nicht für die Klassenarbeit gelernt und rote Ohren …Dabei wollte die Alte nur mit Hildegard quatschen, und weil die noch immer auf Landurlaub war, hatte Fritze versucht, sie auf einen Sekt einzuladen. „Willst du mich vergiften?“, hatte die Olle gekräht. Rote Ohren. Kannste wissen. Aber dann konnte Fritze den alten Vogel doch noch überreden. Mit Rum. Damit kannten sie sich beide aus. Mit Kuba und Revolution! Sprottenpeters Lachen mündete in einem Hustenanfall. Zeit, nach Hause zu gehen. Beim Aufstehen stieß er mit Django, dem besten Gitarristen der Welt, zusammen.

„Is noch auf?“

„Nee. Lass mal. Hier is zappenduster.“

Die tiefen Stimmen der Bauarbeiter, ihr lautstarkes Morgenritual aus gegenseitigen Beschimpfungen, versetzten die Anwohner der kleinen Straße in Alarmbereitschaft. Es ging wieder los. Die milden Temperaturen hatten nicht nur die Sangesfreude der Piepmätze geweckt. Auch das Schweigen der Baustelle war beendet. Freudig hatten die Männer die Nachricht zur Kenntnis genommen. Endlich wieder arbeiten! Ihretwegen hätte der Winter ganz ausfallen können. Ein paar Neue waren mit dabei, andere fehlten. Wie es dem Verunfallten ginge, wollte einer wissen. Ob der noch im Krankenhaus sei. Achselzucken. Misstrauisch beäugten sie einander auf dem Weg, verschwanden schließlich hinter den eingerüsteten Fassaden.

Fritze wünschte, er sei tot. So sehr er sich auch mühte, den Oberkörper aufzurichten, es missglückte. Er konnte nichts tun, nur die Decke anstarren und warten, bis es vorüber ging. Seit Jahren studierte er nun die verheerende Wirkung des Alkohols an sich und Hildchens Gästen. Er hatte ihr versprochen, gut auf den Laden aufzupassen. Verlässlichkeit. Darauf beruhte ihre Freundschaft. Was hatte er nur getan? Er beschloss, das pochende Geräusch in seinen Schläfen als gutes Zeichen zu deuten. Wenigstens wurde das Gehirn wieder durchblutet …Der Anblick der verwaisten Pudeldame am Tresen schoss ihm als dumpfer Schmerz durch die Brust. Wie war er nur auf die Idee gekommen, den guten Rum aufzumachen? Und SELBST daraus zu trinken! Die Alte, sonst ein einziges Gemecker auf zwei Beinen, war ganz zutraulich geworden. Er hatte doch nicht …? Doch. Fritze schluckte schwer an seiner Schuld.

„Was is’n hier los?“

„Klopperei inner Kaufhalle.“

„Ja, das seh ich!“

Vor dem Supermarkt hatte sich eine Traube aus Schaulustigen gebildet. Ein Polizeibeamter versperrte die Tür. Drinnen kümmerte sich ein Sanitäter um zwei verletzte Bauarbeiter. Das zumindest behaupteten die aus der ersten Reihe.

Foto: Nane Diehl

Manja Präkels,Jahrgang 1974, schreibt, singt und tourt mit ihrer Band Der Singende Tresen. Soeben erschien beim Verbrecher Verlag die von ihr mit Markus Liske herausgegebene Textsammlung „Vorsicht Volk!“. Seit 2009 betreiben die beiden die Gedankenmanufaktur WORT & TON. Ihr Romandebüt „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ erscheint 2016.

Illustriert wird die „Im Anwohnerpark“-Serie von Maria MacDonald, cargocollective.com.

„Na und neulich war doch schon Großeinsatz vorm blaulicht!„

Hildegard zuckte zusammen. Ihre Rückkehr hatten sich die beiden Frauen anders vorgestellt. Irgendwie freundlicher. In den paar Tagen auf dem flachen Land, in der Einsamkeit und Ruhe dörflichen Lebens, war nicht nur die Sehnsucht nach Berlin gewachsen. Aus der Ferne betrachtet, beginnen selbst die langweiligsten Alltäglichkeiten zu schimmern. Weniger glanzvolle Momente verschwinden zur Gänze.

„Und dann stehste wieder doof da.“

Hildegard war bedient. Sie verabschiedete sich von Anne, indem sie der Nachbarin kurz in den Arm knuffte und lief grübelnd zur Kneipe hinüber: Was steckte hinter dem Anruf von Django? Erst hatte sie ihn empört wegdrücken wollen, dann aber bemerkt, dass es ihm gar nicht um Lale ging: „Ich musssssdiiehr dringend was erzzzzzähln! Weeegn deeer Exxxplossssioooon!“

Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als den Jungen aufzusuchen. Sollte ausgerechnet er Licht ins Dunkel bringen? Aus Lale hatten sie jedenfalls nichts herausbekommen können. Die stand weiter neben sich. Beunruhigt schloss Hildegard dasblaulicht auf.

Charlottes Rückverwandlung in Oma Heinrich war das schmerzhafte Erwachen ihrer erfrierenden Gliedmaßen vorausgegangen. Beim Klicken des Türschlosses hatte sich ihr der verlassene Pudel entgegen geworfen und vor Freude derart mit dem Hintern gewackelt, dass er dabei umgefallen war. Charlotte ging vorsichtig in die Hocke und schob sich ihr dankbares Bienchen auf die kalten Füße. Wie gut das tat. Diese Wärme. Im Weltall hatte ihr das nicht gefehlt. Eigenartig …