Künstler mit Wackelfüßen

Champions League Nach nahezu perfektem Spiel und einer 2:0-Führung muss sich der FC Bayern in Turin mit einem Remis begnügen. Es bleiben mulmige Gefühle

Zu spät: Joshua Kimmich gegen Stefano Sturaro (l.) beim 2:2  Foto: ap

aus turin Maik Rosner

So unentschieden wie das Ergebnis waren auch die Bewertungen danach. Zwischen Freude über einen lange Zeit bemerkenswert überlegen geführten Auftritt bei Juventus Turin und Ärger über den noch verschenkten Sieg pendelten die Meinungen beim FC Bayern. Nicht nur je nach Gesprächspartner, sondern auch in den Gedankensträngen eines jeden Einzelnen, zuweilen sogar in einem Satz. „Ein bisschen Ärger ist dabei, aber die Ausgangslage ist sehr gut für uns, deswegen braucht man sich nicht zu ärgern“, befand Kapitän Philipp Lahm nach dem 2:2 (0:1) im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League. Wohlgemerkt beim Finalisten der Vorsaison, wie Pep Guardiola erinnerte.

Der Trainer war allerdings der Einzige, der die zwiespältigen Eindrücke vom Dienstag als durchweg „sehr gut“ einstufte. Nicht nur die ersten 60 Minuten, in denen Thomas Müller (43.) und Arjen Robben (55.) mit ihren Toren der spielerischen Überlegenheit sogar noch zu wenig Ausdruck verliehen hatten. Sondern auch die jenes letzten Spieldrittels, in dem der verdiente Erfolg und die mögliche Vorentscheidung für den Viertelfinaleinzug entglitten war.

Vor Paulo Dybalas 1:2 (62.) hatte der junge Aushilfsverteidiger Joshua Kimmich beim Versuch, an der Strafraumgrenze zu klären, den Ball nicht entschlossen genug und zudem in die Füße von Mario Mandzukic umgelenkt. Bei Stefano Sturaros 2:2 (76.) traf Kimmich eine Winzigkeit zu spät am Tatort ein. Hinzu kamen weitere Turbulenzen in der Schlussphase, die einen Eindruck vermittelten, wie schmal der Grat auf diesem Niveau sein kann zwischen Spielkunst und beinahe schon maßloser Überlegenheit auf der einen Seite sowie einkehrender Verunsicherung und Wackelfüßen auf der anderen Seite.

Dass „Juve immer noch eine sehr, sehr gute Mannschaft“ ist, wie Lahm erinnerte, hatte in jener Szene, die die Verwandlung des Spiels von einem Klassenunterschied in einen offenen Schlagabtausch herbeiführte, vor allem der sonst gute Kimmich erfahren müssen. Weshalb nicht nur bei Manuel Neuer die Enttäuschung überwog. „Ich gehe mit einem mulmigen Gefühl nach Hause, weil man schon gedacht hat, man könne mit einem sehr guten Ergebnis oder sogar mit einem perfekten Ergebnis nach Hause fahren“, sagte der Torwart.

Als Anreiz fürs Rückspiel am 16. März dienen nun die Lernminuten nach der Lehrstunde. Ein Spiel konsequent durchzuziehen ist das Lernziel. Mit jener „Schablone“, wie Lahm die taktische Herangehensweise nannte, die „in den ersten 60 Minuten sehr gut gepasst hat“. Zumal Juve in München wohl nicht großartig anders agieren werde, wie er vermutet. Die Bayern wissen allerdings auch, dass Spielverläufe auf den Kopf gestellt werden können und sich selbst vermeintlich passgenaue Schablonen plötzlich nicht mehr einsetzen lassen.

Ähnliches könnte auch beim zweiten Schritt Richtung Viertelfinale ein wichtiger Faktor werden. Die Sorge, mit dem dominanten Ballbesitzstil die von Juve geliebten Räume für Konter zu öffnen, könnte die Münchner dann noch mehr verunsichern, wenn die Partie länger unentschieden ist. Aber ist es überhaupt möglich, den Ball unablässig so präzise zirkulieren zu lassen, wie es die Münchner versuchen? Wäre nicht zuweilen ein Rhythmuswechsel angeraten?

In diese Richtung gingen auch Müllers Einschätzungen. „Wir haben sie durch das 2:1, was sicher möglich war zu verteidigen, ein bisschen selbst ins Spiel zurückgebracht. Insgesamt haben wir es in der zweiten Halbzeit nicht mehr geschafft, so dominant zu sein“, befand er. Und weiter: „Es wäre ja auch komisch gewesen, wenn wir Juve im eigenen Stadion 90 Minuten lang an die Wand gespielt hätten.“ Vielleicht sollten sie sich das gar nicht vornehmen fürs Rückspiel in München, diese Ahnung beschlich auch Robben. Die zweite Verabredung mit Juve, sagte der Niederländer, „müssen wir mit viel Leidenschaft angehen. Aber auch mit dem Kopf.“