Das Klischee vom Berliner Osten: Plattenbauten an der Frankfurter Allee jenseits des S-Bahn-Rings. Aber dahinter verbergen sich auch lauschigere Viertel

Das Innere nach außen kehren

Wohnen Die Viertel jenseits des
S-Bahn-Rings werden von den meisten BerlinerInnen ignoriert. Wenn die Stadt jedoch auch für sozial Schwächere und Kreative lebenswert bleiben soll, muss sich das schnell ändern

Von Malene Gürgen
(Text)und Stefan Boness (Fotos)

Von eine Station drinnen nach eine Station draußen – nimmt man den S-Bahn-Ring als Maßstab war das mein Umzug im vergangenen Jahr: von Neukölln nach Lichtenberg, vom U‑Bahnhof Karl-Marx-Straße zum U‑Bahnhof Magdalenenstraße. Ein lächerlicher Unterschied eigentlich. Aber für die meisten Menschen, mit denen ich darüber sprach, doch der entscheidende. Deren Reaktion: „Außerhalb des Rings, echt jetzt?“

Die Mehrheit der BerlinerInnen – ungefähr zwei Drittel – wohnt zwischen S-Bahn-Ring und Stadtgrenze, also in dem Gebiet, das Stadtplaner als Außenstadt bezeichnen. Trotzdem fragt Google bei der Suche nach diesem Begriff: „Meinten Sie Innenstadt Berlin?“ Und das scheint folgerichtig. Denn dieser Teil spielt in der städtischen Öffentlichkeit selten eine Rolle. Das Archiv der taz etwa spuckt für das vergangene Jahr 1.109 Treffer zum Stichwort „Kreuzberg“ aus, immerhin noch 208 für Marzahn (Nazis!) und ganze 78 für Reinickendorf. In den Debatten über Mietentwicklung, Gentrifizierung und Wohnen generell taucht die Außenstadt oft nur als Negativfolie auf, als homogenes Gebiet der Verdrängten.

„Die deutliche Unterscheidung zwischen Innen- und Außenstadt ist ein Berliner Spezifikum. Das gibt es sonst nur in wenigen anderen Städten“, sagt der Stadtplaner Harald Bodenschatz, Professor am Center for Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin (TU). Die Konzentration stadtpolitischer Debatten auf die Innenstadt hält er für fatal: „Nicht nur die Diskussionen, auch die Kämpfe und Konflikte fokussieren fast ausschließlich auf diejenigen, die in der Innenstadt wohnen. Wer diese verlässt – ob freiwillig oder unfreiwillig – verschwindet aus dem Blickfeld.“ Zwar sei es richtig, der Verdrängung aus der Innenstadt politisch entgegensteuern zu wollen – wer aber nicht nur Abwehrkämpfe führen wolle, müsse beginnen, die Stadt nicht nur bis zum S-Bahn-Ring für lebenswert zu halten.

Für mich war der Abschied aus der Innenstadt halb freiwillig: Die Miete konnte ich mir zwar gerade noch leisten. Es brauchte aber keine Glaskugel um vorauszusagen, dass das nicht mehr lange so gehen würde. Die Angebotsmieten im Richardkiez, wo ich wohnte, sind von 2009 – dem Jahr, als ich dort hinzog – bis 2014 um sagenhafte 99,2 Prozent gestiegen. Damit teilt sich in dieser Kategorie mein einstiger Kiez den Spitzenplatz mit der Gegend um den Potsdamer Platz.

Dass der 1877 fertiggestellte S‑Bahn-Ring in der stadtplanerischen Definition wie auch in der Realität seit Langem die Grenze zwischen Innen- und Außenstadt markiert, liegt an Paradigmenwechseln in der Stadtplanung, erklärt Bodenschatz: Das Gebiet innerhalb des Rings ist von dichter, mehrgeschossiger Bebauung geprägt – die einst berüchtigten Mietskasernen, inzwischen begehrte Altbauten. Viele der Quartiere außerhalb des Rings hingegen sind erst nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. „Die gründerzeitliche Blockbebauung war damals passé. Man nahm großflächige Siedlungsprojekte in Angriff“, sagt er.

„Die deutliche Unterscheidung zwischen Innen- und Außenstadt ist ein Berliner Spezifikum“

Harald Bodenschatz, Stadtplaner

An der meiner Wohnung nächstgelegenen Ringbahn-Station, dem S-Bahnhof Frankfurter ­Allee, ist dieser Unterschied besonders deutlich: Auf der einen Seite Friedrichshainer Getümmel, Geschäft an Café, zu beiden Seiten schließen Altbaukieze an. Auf der anderen Seite beginnen die Plattenbauten, die Stadt weicht von der Straße zurück, Supermärkte, Tankstellen und Solarien übernehmen. Wer unter der S-Bahn-Brücke durchgeht, spürt den Wechsel sofort.

Es gibt Anzeichen dafür, dass diese klare Trennung aufgeweicht wird. Denn Berlin wächst und zwar gewaltig: Bis 2030 soll die Stadtbevölkerung um rund 7,5 Prozent zulegen (siehe Grafik). Doch dieses Wachstum ist sehr unterschiedlich verteilt: Während die Bevölkerung im Südwesten, aber auch in großen Teilen der Innenstadt stagniert oder nur leicht wächst, wird vor allem Gebieten im Nordosten ein Zuwachs von bis zu 30 Prozent vorausgesagt. Die fünf Spitzenreiter unter den Bezirken – Pankow, Treptow-Köpenick, Lichtenberg, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf – liegen größtenteils oder vollständig außerhalb des Rings.

Das hat einen einfachen Grund: Nur in der Außenstadt gibt es noch größere Flächen, die bebaut werden können. „In Berlin wurde jahrelang keine Bodenvorratspolitik, sondern eine Bodenveräußerungspolitik betrieben“, sagt Harald Bodenschatz. „Nun muss der Senat auf die wenigen Gebiete zurückgreifen, die er noch zur Verfügung hat.“

Das bringt Konflikte mit sich: Gegen die Bebauung der Elisabeth-Aue im Norden Pankows oder der Buckower Felder im Süden Neuköllns gibt es Widerstand von Initiativen, in Gebieten mit vielen Zuzügen immer wieder Konflikte um unzureichende Infrastruktur. „In den nächsten Jahren werden wir immer mehr solcher Konflikte erleben“, prognostiziert Bodenschatz, „und genau deswegen wird sich der stadtpolitische Fokus auf die Innenstadt nicht mehr aufrechterhalten lassen.“

Doch das Berlin außerhalb des Rings drängt nicht nur aufgrund dieser sich anbahnenden Konflikte stärker ins Bewusstsein der InnenstadtbewohnerInnen. Es sind auch die Potenziale: niedrigere Mieten, mehr Platz, mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Dies lockt nicht nur MieterInnen, sondern darüber hinaus Projekte und Initiativen: Das 2013 eröffnete Veranstaltungsgelände Alte Börse in Marzahn und das Künstlerprojekt Greenhouse im ehemaligen Finanzamt in Südtempelhof sind solche Beispiele. Und nicht zu vergessen das Nachtleben: Während die Clubs in der Innenstadt zunehmend mit Lärmbeschwerden und Auflagen zu kämpfen haben, bringen Orte wie das Sisy­phos an der Rummelsburger Bucht die NachtschwärmerInnen schon seit Jahren dazu, in Scharen den Ring zu verlassen.

Voll, voller, Innenstadt: Selbst in Neukölln, bis Mitte der nuller Jahre noch Terra incognita für jegliche Szene, gibt es kaum mehr bezahlbare, brauchbare Wohnungen

Außerhalb des Rings lässt sich verwirklichen, was in der Innenstadt fast unmöglich geworden ist: etwa das Hausprojekt, in das ich gezogen bin. Jahrelang hatte die Gründungsgruppe nach einem Gebäude gesucht, in Lichtenberg wurde sie schließlich fündig. Das Interesse an gemeinschaftlichen, alternativen Wohnformen ist groß, aber schon Wohnungen für große WGs zu finden in der Innenstadt ein Kunststück. Zu der harten Verdrängung, die Menschen dazu zwingt, ihre Innenstadtkieze zu verlassen, kommt dieser Faktor hinzu: Wer anders, günstiger, selbstbestimmter leben will, nimmt dafür längere Wege in Kauf.

Klar ist: Nicht nur der Blick der Innen- auf die Außenstadt, auch die Außenstadt selbst wird sich verändern müssen. Geprägt, wenn auch nicht überall im gleichen Maße, ist sie von stadtplanerischen Maximen aus der Zeit nach 1945: in sich geschlossene Siedlungen mit Zentren im Inneren; die Außenränder verbunden durch große, die Stadt zerschneidende Straßen, ausgerichtet auf ein einziges Verkehrsmittel: das Auto.

„Um diese Gebiete zu lebenswerten urbanen Räumen zu machen, braucht es eine Reduzierung des Autoverkehrs, also eine Stärkung anderer Verkehrsarten sowie der oftmals heruntergewirtschafteten lokalen Zen­tren“, sagt Bodenschatz. Stadtpolitik und -planung müssten beginnen, das Gebiet zwischen S-Bahn-Ring und Stadtgrenze stärker in den Blick zu nehmen. Im besten Falle, so Bodenschatz, denke man die Entwicklung Berlins auch über die Stadtgrenze hinaus. Vielleicht verschieben sich dann ja tatsächlich die Grenzen dessen, was wir als Innenstadt empfinden – und Lichtenberg gehört eines Tages zum Zentrum.