Blume / Herz / Stern / Mädchen

Umzug Die Luise-und-Wilhelm-Teske-Schule in Schöneberg war eine Notunterkunft, in der sich viele Ehrenamtliche engagierten. Kinder konnten malen, Erwachsene Deutsch lernen. Nun mussten die Bewohner umziehen. Die alte Schule soll wieder Schule werden

Ulrike Münter

48, Literaturwissenschaftlerin, Kunsthistorikerin, hauptberuflich: Kommentatorin der Sammlung Wemhöner, Initiatorin des Projekts „Charlottes Salon. Philosophieren mit Kindern“ an der Charlotte-Salomon-Grundschule in Kreuzberg (2011–2015), seit November 2015: Kreatives Schreiben für Kinder und Jugendliche im Rahmen von „Deutsch für alle“ in der Notunterkunft Teske-Schule, Fortsetzung, und wenn möglich, in der Notunterkunft Rathaus Friedenau.

von Ulrike Münter

Dienstag, 23. Februar 2016:

Die siebenjährige Parasto aus Syrien schaut auf die Seiten ihres Schulheftes. Mit fünf anderen Kindern sitzt sie an einem Tisch, der neben dem Lehrerpult eines Klassenzimmers steht, in dem bis 2013 noch Chemie und Physik unterrichtet wurden. Still, ohne auch nur einen Blick für das Geschehen um sie herum, malt Parasto mit wenigen Strichen ein Mädchen. Sie greift zur Schere, wählt ein Stück Geschenkpapier und schneidet die aufgedruckten Motive aus. Den Fisch klebt sie zielsicher in den Bauch der Figur.

90 Minuten vergehen. Am Ende des Unterrichts prangt ein dickes rotes Herz auf der zweiten Heftseite, umgeben von einem guten Dutzend Kussmündern. Die Frage, wie ihr Bild denn heißen solle, beantwortet Parasto mit dem Zeigefinger und tippt zuerst auf die Blume, dann auf Herz und Stern und zuletzt auf das Mädchen. In Großbuchstaben überträgt sie die von uns vorgeschriebenen Wörter ins Werk. Hoher Seegang durchschaukelt die Schrift.

Als das Aufräumen beginnt, hat Parasto plötzlich eine klare, kräftige Stimme: „Noch eine Seite, bitte.“ Der Zopf, der mitten auf ihrem Kopf in die Höhe ragt, bebt, ihre dunklen Augen betteln. Mit beiden Händen umklammert sie ihr Heft und drückt es gegen den Bauch.

Während Parasto in ihre Bil­derwelt abtaucht, ringen ihre Eltern mit den Umlauten. „Ä“ und „Ö“ bereiten weniger Schwierigkeiten, dafür will das „Ü“ so gar nicht gelingen. Die Komik der Situation ist ansteckend, Lachen schallt durch den Raum. Unweigerlich schweifen die Augen von Mutter und Vater zur Tochter. Ihr Blick macht unmissverständlich deutlich, wie erleichtert sie sind, ihr Kind in Sicherheit zu wissen.

Professionell improvisieren

„Deutsch für alle“ heißt, dass alle Bewohner zu festgelegten Zeiten mit oder ohne Arbeitsmaterialien am Unterricht teilnehmen können, auch samstags und sonntags. Zwei bis vier ­Lehrer erwarten die jungen Frauen und Männer, Ehepaare, betagte Menschen und dreimal in der Woche auch die Kinder. An­alphabeten beginnen mit einzelnen Buchstaben, andere üben Konversation oder haben spezielle Fragen zur Grammatik.

Jeder Tag ist eine Art professionelle Improvisation für die Pädagogen, Lehrer und die zahlreichen Kreativen, die hier vor oder nach der eigenen Arbeit erscheinen. Die 220 Bewohner der „Teske“ – von Notunterkunft spricht hier niemand – kennen die Gesichter der Ehrenamtlichen.

Das Sicherheitspersonal grüßt entspannt, im Foyer sitzen Familien beim Tee. Es gibt Yogakurse, Handarbeitsgruppen, Kochen für Mutter und Kind in der nahe gelegenen Gemeinschaftsküche und verschiedene Sportangebote. Eine Kleiderkammer befindet sich im Keller, ein Spielzimmer im ersten Stock. Die erste Impression beim Betreten des 1908 erbauten und denkmalgeschützten Backsteinbaus: surrende Waschmaschinen und der Geruch frischer Wäsche.

Bereits vor etwa zwei Wochen kursierten die Gerüchte, dass die Teske-Familien, darunter rund 60 Kinder und Jugendliche, 20 davon im Kita-Alter, ins Friedenauer Rathaus umquartiert werden sollen. Grund dafür ist der Plan, in dem ehemaligen Schulgebäude die Kinder vom Tempelhofer Feld zu unterrichten.

Eine Schule nur für Flüchtlingskinder – der Integrationsgedanke existiert bei diesem Modell nicht mehr. Idealerweise sollte es sein wie in der Teske-Schule. Die Schüler besuchen Willkommensklassen in den nahe gelegenen Grundschulen und Gymnasien, die Kleineren gehen in die entsprechenden Kitas. Gerade haben sie zum ersten Mal Fasching gefeiert. Auch sie waren Gespenster, Untote und Vampire.

Mittwoch, 24. Februar 2016:

Allen Bemühungen um ein Moratorium zum Trotz wurde am letzten Mittwoch die zügige Räumung der Teske-Schule beschlossen.

Um den Verunsicherungen und Ängsten der Bewohner entgegenzuwirken, organisierten Ehrenamtliche spontan eine Besichtigung der Wohnverhältnisse in Friedenau.

Eine Delegation wurde bestimmt, um im Anschluss das Gesehene weiter zu erzählen. Wichtig war zudem die Zusage, dass die Kinder in ihren Schulen und Kitas bleiben würden. Was vorher nur Worte waren, bestätigte sich: Kleinere Räume, ausreichend Duschen und sich im Bau befindliche Gemeinschaftsküchen beruhigten. Für die Familien begann das Kistenpacken. Am Freitag und Samstag bezogen sie ihr neues Heim.

In der Teske spricht keiner von Notunterkunft. Angebote:Yoga und Deutsch für alle

Sonntag, 28. Februar 2016:

Es ist Sonntag in der Teske-Schule. Eigentlich unterschied sich dieser Tag nicht sonderlich von den anderen Wochentagen. Deutschkurse und gemeinsames Singen stehen auf dem Programm. Nun leben hier aber keine Familien mehr.

Kinderlachen und Geschrei, ihr unbändiges Rennen durch die Flure und Treppenhäuser fehlen, die bunten Gewänder und Kopftücher der Frauen auch. Die alten Männer mit ihren wenigen Zähnen – auch sie sind Erinnerung.

Geblieben sind 80 allein reisende Männer. Ihnen wurde versagt, mit den Familien zusammen nach Friedenau zu ziehen, obwohl die so oft in den Medien beklagten Übergriffe hier nie stattgefunden haben. Ein respektvoller Umgang war in der „Teske“ der Alltag. Coole Jungs mit Badelatschen trugen die Wäschekörbe, sie waren die großen Brüder der Kinder und Teil der sie umgebenden Familien. Einige besuchen bereits Sprachkurse an Universitäten, andere gehen zur Volkshochschule und anschließend zu „Deutsch für alle“.

Sie alle wollen möglichst bald studieren oder arbeiten. Der erste Plan, sie in die Tempelhofer Hangars zu schicken, konnte von Michael Elias, dem Leiter der Betreiberfirma Tamaja, verhindert werden: „Ein Umzug in die Hangars würde eine eindeutige Verschlechterung für diese Männer bedeuten. Dem kann ich nicht zustimmen.“ Nun dürfen sie vorerst bleiben. ­Allerdings wird sehr bald der Umbau zur Flüchtlingsschule beginnen, spätestens dann muss eine Perspektive gefunden sein. Die letzte Hoffnung, dass auch die Männer der „Teske“ durch ihr vorbildliches Verhalten als „besonders schützenswert“ erachtet werden und nach Friedenau nachziehen dürfen, ist noch nicht gestorben.

Blume / Herz / Stern / ? – eine Art Mantra der Teske-Schule.