Die Trias Gehen, Sehen, Sprechen

ÜBERSICHT Das Lesen in Landschaften und Büchern und das Lesen in Gesichtern. Zsuzsanna Gahses im „Südsudelbuch“ gesammelten, nachtragenden Notizen bringen es auf den Punkt

Wie die Passanten ihren Gang über den Zebrastreifen bewältigen, erscheint als ein gestochen scharfes Bild, das jeden Schritt, jeden Hüftschwung exakt wiedergibt

VON HANSJÖRG GRAF

Wer es wagt, ein „Südsudelbuch“ vorzustellen, muss darauf gefasst sein, vom kritischen Leser mit dem Namen Lichtenberg konfrontiert zu werden. Es lohnt sich also, Johann Christoph Lichtenbergs am 1. Januar 1789 verfasstes Programm von Heft J der „Sudel-Bücher“ mit der Seite 7 von Szuzsanna Gahses „Südsudelbuch“ zu vergleichen, obwohl mit dem Einspruch der Autorin zu rechnen ist.

Lichtenberg dämpft die Erwartungen prospektiver Leser mit allem Nachdruck; es handle sich um „Vermischte Einfälle, verdaut und unverdaute Begebenheiten, die mich besonders angehn. Auch hier und da Exzerpte und Bemerkungen, die an einem andern Ort genauer eingetragen oder sonst von mir genützt sind.“

Auch das erste Blatt von Zsuzsanna Gahses „Südsudelbuch“ verrät, wohin die Reise geht. Da ist von „Standortbestimmungen“, „nachtragenden Notizen“, aber auch von einem „Reisetagebuch“ die Rede, „bei dem es nicht auf die einzelnen Tage ankommt“. Die „unterschiedlichen Gangarten“, die Zsuzsanna Gahse für ihr Sudelbuch in Anspruch nimmt, wirken sich reziprok auch auf den Leser, also auf das Tempo der Lektüre aus.

Es macht eben einen Unterschied, ob es sich um das „Wanderwort“ Joghurt und dessen regional bedingten Geschmack oder um den „Großvater Endre“ geht, dessen Schicksal sich in einer Reihe von Bruchstücken abzeichnet, die wiederum Teile eines Romans oder zumindest einer Novelle sein könnten. Hier werden Zeitgeschichte und eine weitgehend fiktive Familiengeschichte zu Faktoren, die sich gegenseitig ergänzen und so ein Ganzes ermöglichen, an dessen Verwirklichung auch die Fantasie des Lesers beteiligt sein kann.

Das Unscheinbare und Beiläufige entpuppt sich bei Zsuzsanna Gahse oft als ein Schlüsselsatz: „Es wäre gut, niemanden sehen zu müssen.“ Das könnte ein Stoßseufzer sein, der eine Fluchtbewegung andeutet; wenige Seiten später endet sie im Haus der Fliehenden; „von der Straße aus bin ich in meinem Zimmer unsichtbar“. Vorzeichen einer Krise? Das Positive, nämlich die Fülle des Wahrgenommenen, verkehrt sich ins Negative einer massiven Bedrängung, die letzten Endes auch von den Blicken der Anderen verursacht wird. Und die Bilanz des Lesers: Was sich als Sudelei präsentiert, erweist sich als Ausdruck einer Lebenshaltung; das Sehen als eine Mitgift und als ein Danaergeschenk, das die Observierende zur Kronzeugin einer Welt macht, die sie gar nicht sehen will.

Was Zsuzsanna Gahse an einer Wiener Kreuzung mit Argusaugen beobachtet, führt den Begriff eines Sudelbuchs ad absurdum: Da ist keine Spur von einem Wastebook oder eine Klitterung. Wie die Passanten ihren Gang über den Zebrastreifen bewältigen, erscheint als ein gestochen scharfes Bild, das jeden Schritt, Hüftschwung oder „Lendengang“ exakt wiedergibt. Der Leser merkt’s: Hier entsteht im Kleinformat eine Physiognomik des Gehens. Und das Resultat eines Blickwechsels zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Zimmer, Fenster und Straße? Zsuzsanna Gahses Formel lautet: „Wer will beobachten und wer beobachtet werden.“ Da werden Vorgänge knapp und zielsicher beschrieben, die von der Chronistin ebenso knapp und treffsicher mit dem Stichwort „Anverwandlung“ unter einen Hut gebracht werden.

„Ordnung führet zu allen Tugenden! Aber was führet zur Ordnung?“ Die Versuchung ist groß, Lichtenbergs rhetorische Frage mit einem Hinweis auf seine „Sudel-Bücher“ zu beantworten. Mit einem energischen Widerspruch der Autorin müsste der kritische Leser rechnen, sollte er dazu neigen, im „Südsudelbuch“ Ansätze eines Systems entdecken zu wollen. Dennoch hält er es für angemessen, den roten Faden zu erwähnen, den die Trias „Gehen, Sehen, Sprechen“ bildet und so die Grundfigur dieses Schreibhefts erkennen lässt.

Zsuzsanna Gahse – sie stammt aus Budapest und lebt in der Schweiz – war es seit eh und je, doch spätestens seit ihrer ersten Buchveröffentlichung „Zero“ aus dem Jahr 1983 um die Reduktion von Sprachverschwendung zu tun; die Eindämmung von Überfluss war für sie stets ein Gebot der Stunde, und sie ist es auch heute noch: „Jedes Wort ist eine Erzählung für sich … Man sagt ein einziges Wort, lässt das Wort ruhig stehen, und fertig ist die Geschichte.“

Die letzte Aufzeichnung des „Südsudelbuchs“ gilt dem Erlebnis des Fliegens. „Ich glaube, ich habe diese Krankheit, bei der man täglich eine Stunde lang fliegen muss. Ich sollte täglich einmal in der Höhe sein und eine Übersicht haben.“ Übersicht: Da geht jemand auf Distanz und sieht doch alles. Übersicht: ein Schlusswort, das die Vielfalt des „Südsudelbuchs“ in einen Kontext stellt.

■ Zsuzsanna Gahse: „Südsudelbuch“. Edition Korrespondenzen, Wien 2012, 174 Seiten, 21 Euro