DER IDEALISTJakob Schoen hatte es satt, der Flüchtlingskrise im Mittelmeer ohnmächtig zuzusehen: Der Abiturient hat mit Freunden einen Verein gegründet und ein Rettungsschiff organisiert, das ab Juni zwischen Libyen und Italien kreuzen soll. Das junge Menschen so etwas schaffen, sei auch ein Denkzettel für die Politik, sagt Schoen
: „Gleichgültigkeit ist für einen Kontinent wie Europa moralisches Gift“

Noch sitzt er am Berliner Landwehrkanal, im Juni will er mit einem eigenen Schiff im Mittelmeer Flüchtlinge retten: „Ich kann mit Ungerechtigkeit nicht umgehen“, sagt Jakob Schoen

Interview Susanne Memarnia
Fotos Miguel Lopes

taz: Herr Schoen, Sie wollen ab Juni im Mittelmeer Flüchtlinge aus Seenot retten. Haben Sie schon ein Schiff?

Jakob Schoen: Wir haben tatsächlich ein Schiff gefunden. Es wurde gerade von unserem Gutachter besichtigt. Wir sind Ende Januar ein großes Stück vorangekommen, als uns zwei Großspender eine Finanzierungszusage gemacht haben. Wir werden aber das Schiff erst kaufen können, wenn wir bis zum 31. März zusätzlich die Summe für den Umbau, die Überführung und den ersten Betriebsmonat, rund 80.000 Euro, zusammenbekommen. Eine große Herausforderung, aber wir probieren alles Menschenmögliche.

Wie viel wird die Aktion insgesamt kosten? Sie brauchen ja nicht nur ein Schiff, sondern auch eine Crew.

Wir rechnen für Kauf, Überführung, Umbau und für die laufenden Kosten für Crew, Benzin, Rückstellungen und Versicherungen mit etwa 500.000 bis 600.000 Euro.

Wie viel haben Sie schon?

Inklusive der Finanzierungs­zusage der beiden Großspender jetzt ungefähr 190.000 Euro. Aber ein großer Batzen sind eben die laufenden Kosten, die ab Juni anfallen. Wir wollen erst mal bis November in See stechen. Ab Sommer werden wir also kontinuierlich Geld einsammeln müssen.

Man könnte sich einfachere Dinge überlegen, wenn man Flüchtlingen helfen will. Wieso ein Schiff, wieso das Mittelmeer?

Im April 2015 saß ich mit Freunden zusammen, als ein besonders schweres Unglück passierte und in einer Nacht 800 Menschen ertranken. Da war dieses Gefühl: Kann man da wirklich nichts machen, müssen wir in Deutschland ohnmächtig zuschauen? Dann haben wir uns informiert, ob das finanziell, technisch, rechtlich machbar ist. Und immer mehr wuchs der Gedanke: Das ist gar nicht so kompliziert, gar nicht so unvorstellbar, ein Schiff zu stemmen.

Werden die jungen Leute, die sich nun bei Ihrer Initiative „Jugend rettet“ engagieren, auch selbst auf dem Schiff mitfahren?

Ja, von unserer Crew werden vier oder fünf sogenannte deckhands sein. Das sind junge Crewmitglieder, die Arbeiten an Bord übernehmen, kochen oder medizinische Erstversorgung der Geretteten leisten. Wir werden da sehr sensibel aussuchen müssen, weil auf sie psychisch und physisch einiges zukommen wird – aber diese Plätze sind ganz klar für junge Leute reserviert.

Und der Rest der Crew: Wer ist das?

Die Mannschaft wird aus Kapitän, Steuermann, Maschinist, Arzt und Rettungssanitäter bestehen, alles Profis, dazu die deckhands und ein Presseplatz. Wir werden alle zwei Wochen die Crew wechseln, weil der Stress doch enorm sein wird –, brauchen also für jeden Posten mehrere Leute. Für die Überführung des Schiffs und die erste Runde haben wir schon einige Kandidaten gefunden.

Auch die Bundeswehr schickt jetzt Schiffe ins Mittelmeer ...

Wir befürchten, dass die Bundeswehr nicht viel Kapazität haben wird für reine Seenotrettung – nicht wie im Sommer 2015, als die Bundeswehr schon einmal mit zwei Fregatten im Mittelmeer erfolgreich gearbeitet hat. Wir fordern mit unserer Aktion deshalb auch, dass die Bundeswehr wieder zwei Schiffe ausschließlich für die Seenotrettung abstellt – auch, um hier in Europa voranzugehen, um ein Zeichen zu setzen.

Es gibt ja bereits einige private Seenotrettungsprojekte fürs Mittelmeer: etwa Sea-Watch, ein Verein aus Brandenburg, der seit Mai 2015 mit Schiffen im Einsatz ist. Oder Watch the Med, ein Alarmtelefon, das Flüchtlinge in Seenot anrufen können. Haben Sie Kontakte untereinander?

Wir haben sehr viel Kontakt zu den Akteuren vor Ort. Besonders zu Sea-Watch, die haben sehr wertvolle Erfahrungen gemacht, von denen wir nun profitieren können. Es gibt da ja auch keine Konkurrenz.

Sprechen Sie sich zum Beispiel ab: Mach du mal Griechenland, wir nehmen Libyen?

Sowohl Sea-Watch als auch die Bundeswehr haben uns gesagt, dass es gar nicht genug Schiffe sein können dort unten. Deswegen wollten wir auch ein eigenes, weiteres Schiff und haben uns nicht einer Organisation vor Ort angeschlossen.

Wie muss man sich das vorstellen: Bekommen die Rettungsschiffe Notrufe und fahren irgendwohin? Oder „findet“ man die Schiffbrüchigen zufällig?

Unser Schiff wird im interna­tio­nalen Gewässer zwischen Libyen und Italien, also auf der zentralen Mittelmeerroute, unterwegs sein. Entdecken wir ein Schiff in Seenot, zum Beispiel, wenn es nicht mehr navigieren kann, bei technischen Schäden und so, kontaktieren wir das MRCC ...

Jakob Schoen

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Der Junge: Der 19-Jährige ist in Berlin aufgewachsen, sein Vater arbeitet als Journalist, seine Mutter ist Erzieherin. Vor einem knappen Jahr hat Schoen Abitur gemacht, eigentlich will er Politikwissenschaften studieren – aber zurzeit ist er ganz eingenommen von seinem Projekt „Jugend rettet“.

Der Macher: Den gleichnamigen Verein gründete Schoen zusammen mit Freunden im Juli 2015. Inzwischen hat „Jugend rettet“ Botschafter in 25 deutschen und vier europäischen Städten. Ziel ist die Finanzierung eines Rettungsschiffs, das im Mittelmeer schiffbrüchige Flüchtlinge aufnehmen soll. Im Juni soll es in See stechen und zunächst bis November in den Gewässern zwischen Libyen und Italien unterwegs sein – und wenn es die Situation erfordert und die Spendenlage ermöglicht, auch länger. Schoen wird mit an Bord sein. (sum)

Was ist das?

MRCC heißt Maritime Rescue Coordination Centre und ist dem italienischen Innenministerium unterstellt. Das MRCC koordiniert sämtliche Rettungsaktionen im Mittelmeer. Wenn wir also ein Boot in Seenot finden, geben wir die Koordinaten und die Personenzahl durch. Die geben uns dann vor, was wir machen sollen, sprich: ob man die Menschen erst mal vorläufig an Bord nimmt, auf weitere Hilfe eines Unterstützungsschiffs wartet oder sie zum Beispiel auf Rettungsinseln nimmt. Das MRCC sagt auch, welcher Hafen von uns angesteuert werden sollte und wer gerade Kapazitäten hat, Menschen aufzunehmen. Zusammengefasst: Wir sind dem MRCC gegenüber weisungsgebunden.

Immer wieder bekommen Kapitäne Ärger, weil sie Flüchtlinge retten. Rechnen Sie auch mit so etwas?

Nein, wenn wir ein Schiff in Seenot entdecken, sind wir laut dem Seerechtsgesetz der Vereinten Nationen dazu verpflichtet, Menschen zu retten. Das tun wir. Alle anderen Schiffe lassen wir natürlich ziehen. Grundsätzlich ist unser Ziel, so lange wie möglich im Operationsgebiet zu bleiben. Unser Schiff ist sehr stabil und robust, ein altes Guard-Schiff, das in der Nordsee für die Sicherheit von Bohrinseln eingesetzt wurde.

Aber machen Sie sich damit nicht zum Handlanger der Politik? Denn es ist doch gerade die Abschottungspolitik der EU, die die gefährlichen Überfahrten für die Flüchtlinge notwendig macht.

Unsere Aktion ist keine langfristige Lösung, das wissen wir. Es muss ein Weg gefunden werden, wie Menschen Asyl beantragen können, ohne sich in Lebensgefahr zu bringen. Es müssen auch langfristige Lösungen in den Herkunftsländern gefunden werden. Es sind viele Fragen ungeklärt, es gibt natürlich Herausforderungen, wenn die Menschen nach Europa kommen – aber wir müssen über all das nicht sprechen, wenn die Leute auf dem Weg schon gestorben sind. Uns geht es um den humanitären Akt. Wir möchten die Leute nicht sterben lassen. Und dass wir, also Jugendliche, das mit einem eigenen Schiff machen wollen, ist für manche staatlichen Akteure hoffentlich auch ein Denkzettel: für die reichen Staaten Europas, die diese Aufgabe trotz ihrer Ressourcen und Möglichkeiten nicht stemmen. Daraus ergibt sich ja auch die Frage, ob das Unfähigkeit ist oder doch fehlender politischer Wille. Auch um den Finger in diese Wunde zu legen, fahren wir da raus.

Ihre Organisation „Jugend rettet“ soll auch eine Diskussionsplattform sein für junge Leute, Sie wollen zudem Botschafter in europäische Städte schicken. Warum das alles? Wird das Thema nicht genug diskutiert unter jungen Menschen?

Es muss zum einen mehr diskutiert werden, zum anderen muss das Thema überhaupt wieder ins Bewusstsein gebracht werden. Es ist sehr aus den Medien verschwunden ...

... aber alle berichten doch täglich über die Menschen, die über die Ägäis nach Griechenland flüchten?

Ja, über die Ägäis. Aber was ist mit der zentralen Mittelmeerroute, die deutlich gefährlicher ist und noch immer mehr Todesopfer fordert als das östliche Mittelmeer? Die tauchen doch in den Schlagzeilen kaum mehr auf. Wir wollen mit der Diskussionsplattform etwas Nachhaltiges schaffen: Jugendliche vernetzen und sie sensibilisieren für das Thema. Und das ist auf eine Art und Weise angelaufen, die uns alle überrascht hat.

Sie haben Ihre AltersgenossInnen für politikverdrossener gehalten?

„Jugend rettet“ hat inzwischen in 25 deutschen Städten Botschafter. Die gehen an Schulen und Universitäten, sprechen lokale Unternehmen an, kurz: Sie repräsentieren die Idee dort in ihrer Stadt. Das kann im Allgäu sein, wo Stockbrot verkauft wird, oder in Aachen, wo bald ein Linienbus mit dem Schriftzug „Jugend rettet“ durch die Stadt fährt – es gibt die unterschiedlichsten Aktionen. Bald wird es auch ein Botschaftertreffen in Berlin geben. Und klar ist da langfristig auch der europäische Gedanke, wir wollen Jugendliche aus Europa zusammenbringen.

Das Thema Flüchtlinge ist ja inzwischen bei vielen offenbar mit Angst besetzt. Wie ist das bei Ihren AltersgenossInnen, die Sie treffen: Überwiegt das Mitleid und der Impuls zu helfen oder auch die Angst vor dem Fremden?

Ich glaube, wir sind eine Generation, die sehr offen ist. Und unabhängig von integrationspolitischen Fragen merke ich, dass es bei vielen meiner Generation überhaupt keine Frage ist, zu helfen, wenn Menschen in Not und Lebensgefahr sind. Das habe ich bei den Treffen und Gesprächen mit den Botschaftern gemerkt, da gibt es überhaupt keine Diskussion. Und auch was die gesellschaftliche Integration der Flüchtlinge angeht, sehe ich in meiner Generation Optimismus und eine große Energie.

Woher kommt bei Ihnen die Überzeugung, dass Sie helfen müssen?

(längere Pause, überlegt) Das kam sehr aus einem Gefühl, dass man mit Ungerechtigkeit und Gleichgültigkeit nicht umgehen kann. Also, ich kann das nicht. Ob mir das meine Eltern mitgegeben haben oder ob ich das in der Schule mitbekommen habe, weiß ich nicht. Ich habe aber stark das Gefühl, dass wir hier in Europa mit den Chancen, dem relativen Frieden, den wir haben, sehr wohl eine Verantwortung haben. Und dass die nicht an unseren Grenzen aufhören darf. Und diese Gleichgültigkeit, die gerade letztes Frühjahr so massiv war, obwohl es jeden Tag Meldungen in den Nachrichten gab. Zum einen diese Ohnmacht – und gleichzeitig das Gefühl, dass man nicht ohnmächtig sein darf: All das hat mich dazu bewogen, „Jugend rettet“ zu gründen. Gleichgültigkeit ist für einen Kontinent wie Europa, der seine Werte hochhält, moralisches Gift.

„Ich sehe in meiner Generation Optimismus und eine große Energie“

Wie ist das in dem Bezirk, wo Sie leben: Begegnen Ihnen das Flüchtlingsthema auch direkt vor der Haustür?

Es gibt wie überall die Pro­ble­me mit notdürftigen Versorgungsstrukturen. Ich habe den Eindruck, dass die Flüchtlinge trotzdem langsam ankommen – aber auch, dass die ehrenamtlichen Helfer immer mehr ausgebrannt sind.

Welcher Bezirk ist das?

Das will ich hier lieber nicht ­sagen.

Warum? Haben Sie Angst?

Das nicht, aber es gibt schon dumpfe Stimmen, vor denen wir uns schützen wollen. Darum wollen wir präventiv nicht zu viel von unserem Privatleben preisgeben.

Wurden Sie bedroht?

Es gab Kritik in jeglicher Form, aber damit haben wohl letztlich alle Flüchtlingsinitiativen zu kämpfen. Das geht von „nai­ve Idealisten“ über „Spinner“ bis zu „bessere Schlepper“ und „Realitätsverweigerer“. Wir können dem nur entgegentreten, indem wir betonen, das wir einen humanitären Gedanken verfolgen: Wir retten Menschen aus Lebensgefahr.

Was sagen Ihre Eltern zu all dem?

Die haben Vertrauen und unterstützen mein Vorhaben. Sie beobachten alles, wie es Eltern halt so tun, aber sie halten sich ansonsten ziemlich raus.

Sie waren sicher ein guter Schüler und haben Ihren Eltern vermutlich nie Anlass zur Sorge gegeben?

(lacht) Naturwissenschaften waren die Hölle. Auch mein Abi voriges Jahr ist nicht so doll geworden, weil anderes oft wichtiger war: Das Projekt mit dem Schiff habe ich mit meinen Freunden zu dem Zeitpunkt ja schon vorbereitet.

Über die europäische Flüchtlingspolitik

„Reiche Staaten, die trotz ihrer Ressourcen die Flüchtlingskrise nicht stemmen können: Ist das Unfähigkeit oder fehlender politischer Wille? Auch um den Finger in die Wunde zu ­legen, fahren wir da raus“

Und vorher? Haben Sie sich da auch schon für etwas engagiert?

Ja, ich habe mit Flüchtlingen gearbeitet, Ausflüge mit Kindern gemacht, ich habe Deutschkurse gegeben. Auch über Reisen in den Nahen Osten habe ich versucht zu verstehen, woher die Leute kommen.

Wo waren Sie?

Für eine längere Zeit in der Osttürkei und in Israel. Ich habe erfahren, wie sehr man beschenkt wird, wenn man offen auf die Menschen zugeht. Diese Erfahrungen bei der Arbeit mit Flüchtlingen, auf den Reisen, waren mir auch ein Antrieb für das Schiffsprojekt.

Ihre Eltern haben erlaubt, dass Sie als Minderjähriger in die Osttürkei reisen? Respekt!

So wild war das nicht. Ich habe das mit Freunden gemacht. Wir sind übers Land gefahren, kamen viel in Kontakt mit den Menschen. Jede Minute dort heißt, Ängste und Vorurteile abzubauen. Heute weiß ich, wir kommen nur in Kontakt, wenn wir nebeneinander wohnen im gleichen Haus – und nicht der eine im Container, der andere im Altbau.

Was ist Ihr Plan für die Zukunft?

Irgendwann einmal will ich Politikwissenschaft studieren. Mich interessiert, wie Staaten miteinander agieren. Aber das ist alles Zukunftsmusik, das Projekt fordert mir gerade alles ab.