berliner szenen Nachbarschaftlich trinken

Im Koma

Sein Alltag hatte endlich feste Strukturen bekommen. Ab 18 Uhr gab er sich grünes Licht für die ersten Drinks. Seit einigen Jahren saß er nun schon in seiner Neuköllner Bude und versuchte tapfer, allein vom Schreiben zu leben. Da man das nicht den ganzen Tag machen kann, gab es einiges an überschüssiger Zeit totzuschlagen. Er versuchte es mit Bier, Brandy und Frauen. Dass er bei Letzteren so gut wie nie landen konnte, hatte zur Folge, dass er sich zunehmend aufs Trinken konzentrierte.

Eines Abends, als er gerade eine der gebrannten Brahms-CDs aufgelegt hatte, mit denen ihn ein benachbarter Ex-Redakteur regelmäßig versorgte, klingelte es an der Tür. Draußen stand eine junge Dame, die sich als neue Nachbarin mit dem etwas merkwürdigen Namen Elka von Heymdink vorstellte. „Aber das ist nur mein Pseudonym“, lachte sie. Eigentlich wollte sie ihn nur nach einer Glühbirne fragen, aber ein paar Tage später saßen sie auch schon zusammen auf ein Bier im „Koma“ an der Sonnenallee. Während sie ein Betrunkener am Tresen immer wieder lallend von der Seite befragte, ob sie nicht die Band Extrabreit kennen würden, unterhielten sie sich angeregt über Literatur. Elka gab vor, in Göttingen über Jean Pauls „Siebenkäs“ zu promovieren, während er versuchte, Arno Schmidts fragwürdige „Etymtheorie“ zu erläutern. Als er am nächsten Morgen mit dickem Schädel aufwachte und vergeblich versuchte, den vergangenen Abend zu rekonstruieren, musste er sich eingestehen, dass es nett gewesen war.

Einige Wochen später fand er aber bereits einen rosa Zettel Elkas in seiner Post: „Bin nach Madrid gezogen. Berlin ist mir zu provinziell.“ „Ja, das ist es wohl“, murmelte er nachdenklich und schloss die Tür. JAN SÜSELBECK