Wer will schon Amateur sein

KLASSENKAMPF In der zweiten belgischen Liga geht es im Saisonfinale besonders hartzur Sache, denn nur die besten acht Mannschaften dürfen im Profilager verbleiben

Schmächtig, aber technisch versiert: Anas Tahiri (l.) von Lierse SK setzt sich gegen Denzel Dumfries (Sparta Rotterdam) durch Foto: imago

aus Lierse und BrüsselTobias Müller

„Kloten!“ Der freundliche Rentner mit dem Damenrad wird plötzlich ungehalten, wenn er über diese seltsame Saison spricht. Was nicht daran liegt, dass sein geliebter Lierse SK nach dem Abstieg in der Zweiten Liga spielt. Auch nicht daran, dass Lierse, 1906 gegründet, sich nach einem Umbruch erst gewöhnen musste an die neue Liga, lange Zeit in der Mitte der Tabelle dümpelte, es nun aber auf Platz 5 geschafft hat. Das Problem ist: Nur die ersten acht Clubs spielen auch in der neuen Saison zweitklassig. Ab Rang 9 geht’s zu den Amateuren.

Lierse, selbst erklärter „größter kleiner Club des Lands“, hat nur vier Punkte Puffer auf Platz 9. Der freundliche Rentner, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, ist seit mehr als einem halben Jahrhundert Lierse-Fan. Eine Stunde vorm Anpfiff an diesem Samstagabend steht er am Kartenhäuschen, hoffend auf drei Punkte gegen die Kellerkinder aus dem benachbarten Heist. Der Mangel an Erfahrung und der verkorkste Saisonstart mit einem taktisch unbedarften Trainer, darin sieht der Rentner die Ursache von Lierses zeitweiligen Problemen. Und natürlich in dieser Reform: „Das haben sich die Vorsitzenden ein paar großer Vereine ausgedacht, die denken, dass sie hier das Sagen haben.“

Neu sind die Pläne, die Zahl der belgischen Proficlubs zu reduzieren, nicht. Zu viele von ihnen stehen finanziell auf chronisch wackeligen Beinen, zu viele geraten angesichts der Lizenzvorschriften ins Strudeln. Oft sind es Investoren, manche seriös, andere windig, die das Überleben garantieren. Auch Lierse muss, wie der Rentner das ausdrückt, „froh sein, in den Händen unseres ägyptischen Besitzers zu sein“. Zu dem Deal gehört, dass Maged Samy bei Lierse SK vor allem die meist maghrebinischen ­Absol­ven­ten seiner Akademie auflaufen lässt. „Die können super spielen, aber sie sind zu klein und zu schmächtig.“

Im Thema-Café im Bauch des Stadions treffen sich unterdessen die Mitglieder des Fanclubs Nooit Wanhopen. Der Name, übersetzt mit „Nie Verzweifeln“, war selten passender als zurzeit. „Solange Lierse besteht, kommen wir, egal in welcher Liga!“, sagt Freddy Leys trotzig, zuständig für die Auswärtsfahrten. Was die Reform betrifft, verliert hier niemand ein gutes Wort. Man kritisiert den abrupten Umbruch mit neun Absteigern, den Ligamodus, „jeder spielt viermal gegen jeden. Ist das Beschäftigungstherapie?“, und überhaupt das „unfaire“ Play-off-System Belgiens, dessen Kreativität seinesgleichen sucht. Gibt es keine Lierse-Supporter, die der Reform etwas abgewinnen können? „Ich habe noch keinen getroffen“, sagt Freddy Leys.

Zwei Stunden ist die Stimmung besser. 4:0 gewinnt Lierse, und die Art, wie das jüngste Team der Liga das tut, lassen an Freddy Leys’ Worte denken: „Wenn diese Mannschaft zusammenbliebe, können wir in zwei, drei Jahren wieder erstklassig sein.“

Torschütze Manuel Benson, 18, denkt noch nicht so weit. „Wir wollen nur vermeiden, zu den Amateuren zu müssen.“ Der Druck sei groß, „jeder in der Kabine“ sei sich der besonderen Situation bewusst. Benson hat an diesem Abend genug gezeigt, um seine Laufbahn als Profi fortzusetzen. Jenen, die das nicht schaffen, drohen finan­ziell deutliche Verluste.

Nach der Pressekonferenz ist auch Trainer Eric Van Meir, als Verteidiger mit Lierse einst Meister und Pokalsieger, optimistisch. „Wir haben das jüngste Team der zweiten Liga. Am Anfang der Saison rutschten wir tief unten rein, aber jetzt kommen wir auf Touren.“ Wie ist das für einen Trainer, in einer solchen Situation ein Team zu leiten? Der Druck, meint Van Meir, wirke sich nicht negativ aus. Und dann, mit einem angedeuteten Lächeln: „Dies ist Belgien, da sind wir einiges gewohnt.“

50 Kilometer südwestlich von Lierse wird auch um den Erhalt des Profitums gekämpft. Etwas mehr als zwölf Stunden später bereitet man sich rund ums Joseph-Marien-Stadion von Union Saint-Gilloise, in den Hängen von Forest oberhalb Brüssels gelegen, auf das Match gegen den Lokalrivalen und Aufstiegsaspiranten White Star Brüssel vor. Draußen scharen sich Fans in der Mittagssonne um Tische auf dem Bordstein, drinnen verteilt die weiß gekleidete Promo­kolonne von Ligasponsor Proximus Werbegeschenke. Eine Handvoll Soldaten in Camouflage kommen in einem Armeejeep an und beziehen irgendwo Stellung, denn dies ist Belgien in Zeiten des Terrors.

„Dies ist Belgien, da sind wir einiges gewohnt“

Lierse-Trainer Eric Van Meir

Union Saint-Gilloise, nach 28 Spieltagen auf Platz 7, ist mit 11 Titeln einer der erfolgreichsten belgischen Vereine. Allerdings datiert der letzte Titel aus den 1930ern. Anders als Lierse verbrachte man die jüngere Vergangenheit unterklassig. Sollte man die Liga halten, muss Union für eine Weile ins Heysel-Stadion ausweichen, denn die Profiauflagen, die für die 16 Clubs der ersten Liga („1A“) und die 8 der zweiten („1B“) gelten, verlangen mehr Zuschauerplätze und damit neue Tribünen.

„Wieder aufsteigen, das ist ein Traum“, sagt Dominique Depretre, einst Sportdirektor, heute zuständig für PR. Ein Schild am Revers seines schwarzen Sakkos weist ihn als Offi­ziel­len aus, seinen Namen hat er dort handschriftlich eingetragen. Depretre trägt Baskenmütze, Jeans und eine Brille mit bernsteinfarbenem Rand. Natürlich will man zweitklassig bleiben, denn nach der Reform schafft nur noch ein Amateurteam den Sprung nach oben.

Kurz vor dem Anpfiff gesellt sich Vorstandsmitglied Jean-Marie Philips dazu. Der Jurist war einst Präsident der Pro League (so der offizielle Name der ersten Liga) und bis 2010 Generaldirektor des belgischen Fußballbunds. Innerhalb dieser Kreise war er freilich immer ein Skeptiker gegenüber den lange gehegten Reformplänen. „Wir haben keine Zeit, uns an die neue Liga zu gewöhnen. Es gibt keinen Übergang!“, kritisiert er. Die Clubs hätten sich überzeugen lassen, dass es ihnen in der Amateurliga besser ginge, angetrieben durch jeweils 50.000 Euro, die man letzten Sommer für eine positive Abstimmung erhalten habe. Drastisches ­Fazit: „Für ein bisschen Geld begehen die Vereine Selbstmord!“

Union Saint-Gilloises sendet an diesem Nachmittag ein deutliches Lebenszeichen an die Konkurrenz. Unter Dauergesängen der Stehtribüne ringt man den Spitzenclub White Star in einer Abwehrorgie nieder und springt wieder über den magischen Strich in der Tabelle: mitten unter die Profikandidaten. Jean-Marie Philips, der in seiner langen Funktionärslaufbahn einiges erlebte, hat ein Vorgefühl: „Das Rennen wird erst am letzten Spieltag gelaufen sein. Bis zum 30. April bleibt es spannend.“