Fast alle wollen übers Meer

Warum so viele junge Menschen in der Hafenstadt Algier vom Leben in Europa träumen

ALGIER taz ■ „Hier komme ich her, wenn meine Moral mal wieder völlig am Boden ist“, erklärt Merzak und schaut von der Uferpromenade Algiers auf die Weite des Mittelmeeres. Der 22-Jährige scheint oft eine Prise Seeluft nötig zu haben. Anders ist es kaum zu erklären, dass der junge Mann aus der Innenstadt hier einen seiner besten Freunde kennen gelernt hat, Amal, 26. Stundenlang können die beiden abhängen und aufs Meer starren. Dabei spinnen sie Träume. „Kanada oder Australien“, sagt Merzak. „Deutschland“, sagt Amal.

Hier in Algerien gebe es keine Zukunft, sagen sie beide. Dabei haben sie es nicht einmal schlecht getroffen. Merzak studiert Jura und macht bald ein Praktikum bei einer internationalen Hotelkette. Und Amal hat sogar eine richtige Arbeit. Er ist Fischer. Alle zwei Nächte fährt er auf einem der Kutter, die im Hafen dümpeln, aufs Mittelmeer. Dennoch ist er unzufrieden: „Ich habe einen Fünfmonatsvertrag und verdiene umgerechnet 200 Euro im Monat.“

An eine eigene Wohnung ist nicht zu denken. Amal wohnt weiter bei den Eltern – in der Wohnung drängen sich Vater, Mutter, acht Geschwister und die Familien zweier Onkels. „Insgesamt sind wir 24 in einer Vierzimmerwohnung“, sagt er. Bei Merzak zu Hause sind sie 16.

„Das ist doch kein Leben“, wettert Amal. Merzak stimmt ihm zu. Wer nicht zur reichen Oberschicht gehört, dem bleibt kaum eine andere Freizeitbeschäftigung, als aufs Meer zu starren. Die wenigen Diskotheken der Hauptstadt? „Zu teuer.“ Und die Kinos? „Kein Geld.“ Nur der Gang ins Internetcafé. „Das machen wir gelegentlich.“ Dort leben Amal und Merzak wie viele junge Algerier ihr virtuelles Leben. Im Chat suchen sie unaufhörlich nach Kontakten zu Altersgenossen jenseits des Mittelmeeres. Überall gehen Gerüchte um von jenen, die übers Internet eine Freundin gefunden haben sollen, sie schließlich ehelichten, und so eine Einreisegenehmigung nach Europa erhielten. Eine ganze Generation lebt mit diesem Traum. Sie wollen in die Länder, deren TV-Serien sie dank der Parabolantenne in- und auswendig kennen. Zwar wissen Amal und Merzak noch nicht wie, aber dass sie raus wollen, daran lassen sie keinen Zweifel.

„90 Prozent der Jugendlichen wollen weg“, sagt Hakim Addad. Der junge Mann ist Sprecher der einzigen parteiunabhängigen Jugendorganisation des Landes, der Versammlung Aktion Jugend (RAJ). „Hogra“ nennt er das, was die Jugend bewegt. „Hogra“ steht für Verachtung oder Missachtung, und damit für fehlende Freiheit und soziale Ungerechtigkeit. „Kurz: für die erdrückende Perspektivlosigkeit.“

70 Prozent der Algerier sind jünger als 35 Jahre. Nach offiziellen Angaben sind davon knapp 30 Prozent arbeitslos. Doch diese Zahl greift zu kurz. Von denen, die nicht auf dem Arbeitsamt gemeldet sind, haben nur wenige eine richtige Arbeit. Viele schlagen sich mit selbst erfundenen Jobs durch, verkaufen Zigaretten an der Straßenecke oder winken Autos in Parklücken.

Schwarzafrikaner arbeiten für ein Drittel der üblichen – eh schon viel zu niedrigen – Löhne. Ob Bau oder Gartenarbeiten, überall finden sich Schwarze, die von südlich der Sahara nach Ceuta und Melilla wollen, um dort über den Grenzzaun in eine der beiden spanischen Enklaven und damit in die EU zu gelangen.

„Wer Geld hat, versucht ein Visum zu kaufen“, erzählt Addad. 1.500 bis 2.000 Euro koste dies. Immer wieder fliegen korrupte Beamte in europäischen Botschaften auf. Andere Jugendliche hängen Tag für Tag am Hafen herum und versuchen auf eines der Schiffe zu kommen.

Im Februar 2005 machte ein 14-Jähriger Schlagzeilen, der in Sommerkleidung im kalten Sankt Petersburg von Bord ging und von der russischen Polizei aufgegriffen wurde. Wieder andere versuchen es über Marokko oder Tunesien. Von dort ist die europäische Küste näher. Kleine Boote bringen die Auswanderer für viel Geld auf die andere Seite.

„Wenn du die Jugendlichen fragst, ob sie nicht Angst haben, in Europa schlecht behandelt zu werden“, sagt Addad, „so antworten sie: Wenn sie mich dort schlecht behandeln, passiert das wenigsten nicht hier, wo ich zu Hause bin.“ REINER WANDLER