Ein bisschen Muße

Flüchtlinge In den Tempelhofer Hangars wird heute eine Bibliothek eröffnet. In einem Pankower Heim wird schon gelesen

Romane, Bilder- und Kochbücher: Es gibt reichlich Lesestoff in verschiedenen Sprachen Foto: Timm Schamberger/dpa

von David Joram

Nein, die 13-jährige Erika hat keine Lust rauszugehen. Obwohl die Sonne so schön warm vom Himmel scheint, obwohl viele ihrer Altersgenossen im Freien herumtoben. Das mit ihren Eltern aus Serbien geflüchtete Mädchen sitzt lieber im ehemaligen Pankower Hotel „Comfort“ und liest Bücher. Was der Hotelname verheißt, hält er nur bedingt. Aber das ist Erika egal. Wichtig ist ihr dagegen, dass in dem zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Hotel dieser eine Raum mit dem seltsamen Namen existiert: Asylothek. Hier hält sie sich am liebsten auf. Berlins bislang einzige Asylothek hält nämlich durchaus, was sie verspricht.

Aber was genau soll das denn sein, eine Asylothek? Der Name klingt ja schon etwas komisch, um nicht zu sagen: ausgrenzend. Suzanne Visentini weiß, dass viele Menschen irritiert sind, wenn das erste Mal von einer Asylothek die Rede ist. Ihr selbst erging es ähnlich, als sie vor wenigen Monaten via Twitter von dem Projekt in Pankow erfuhr. Mittlerweile verweist sie immer auf Nürnberg, wo die Ursprünge liegen. 2012 fand der fränkische Architekt Günther Reichert, dass es nicht ausreiche, „nur“ Klamotten für Flüchtlinge zu sammeln. Eine literarische Plattform müsse entstehen. Nicht allein, um die Leselust zu befrieden. Vielmehr, um von dort aus Lern- und Bildungsmöglichkeiten anzubieten, die normalerweise staatliche Stellen erledigen sollten. Weil die Behörden aber nicht so richtig wollten, wie sie sollten, initiierte Reichert Deutschlands erste Bibliothek in einer Asylunterkunft, also eine Asylothek.

„Raum der Möglichkeiten“

Im Frankenland wurden dar­über unter anderem Sprachkurse oder Sportangebote organisiert, alles auf privater Ebene. Was in Nürnberg gut funktionierte, etablierte sich schnell in der ganzen Republik. 50 Asylotheken sind mittlerweile entstanden, eine davon in Pankow, wo 280 Geflüchtete das „Comfort“ bewohnen. Die Asylothek dort hat dreimal pro Woche für drei Stunden geöffnet. Sie bietet 20 Sitzgelegenheiten, eine bequeme Couch, Bücher und einen CD-Player. Den benutzen die Bewohner für das Training im sogenannten Sprachcafé, das ein festes Angebot der Asylothek ist. „Der Ort ist weniger eine Bibliothek als ein Raum der Möglichkeiten“, sagt Visentini. Schließlich werden hier auch Klamotten zusammengenäht. Und wer will, darf selbst die heiligste aller Bibliotheksregeln brechen: Gespräche, auch in höherer Lautstärke, sind gestattet.

Das nutzt Erika fleißig aus. Immer wieder kontaktiert sie Martina Barsch, die Betreuerin, die freitags stets aus Lichterfelde nach Pankow kommt. Die Mathematik- und Musiklehrerin sagt: „Es ergeben sich oft Gespräche mit den Bewohnern. Manchmal, wenn es ganz ruhig ist, erzählen sie von ihrem Lebensweg.“ Dann ist die Lehrerin teilweise als Psychologin gefragt. Bei Erika liegen die Dinge einfacher; das Mädchen will ein paar lobende Worte von Barsch hören, wenn sie selbst die Bedeutung der neu gelernten Wörter richtig erfasst hat. Vieles hat sich Erika angelesen. Die rund 1.000 fein säuberlich einsortierten Bücher in den Regalen bieten einiges an Stoff. Bilderbücher, Schulbücher oder Jugendbücher finden sich darunter, aber auch Kochbücher oder Romane – wahlweise in den Sprachen Persisch, Arabisch, Englisch oder Deutsch.

Die meisten entstammen Spenden durch Privatiers und Verlage. Für einige Flüchtlinge ist die Bibliothek eine echte Neuheit. „In manchen Kreisen ist die Erzählkultur deutlich ausgeprägter als die Lesekultur“, sagt Visentinti. Entsprechend gebe es Bewohner, die das Prozedere einer Bibliothek nie kennengelernt hätten.

In den Hangars des ehemaligen Flughafen Tempelhof, wo heute Berlins zweite Asylothek eröffnet, sollen deshalb Aufbauworkshops angeboten werden, die etwa erklären, wie man sich Bücher ausleihen kann. Zudem soll Tempelhofs Asylothek etwas zweckgebundener sein und den Nutzern stärker als Rückzugsort dienen. Weil die Asylotheken ihren Bestand untereinander austauschen wollen, darf sich auch Erika freuen. Auf neue Bücher.

Weitere Infos: www.asylothekberlin.wordpress.com/

Bücherspenden: berlin.spenden@asylothek.de