HAT DER MENSCH ERST IN DIE HACKORDNUNG EINGEGRIFFEN, VERSTEHT SICH DIE ZIEGENHERDE PLÖTZLICH WIEDER PRÄCHTIG
: Im neuen Gras

Foto: privat

Vogelfluglinie

von Rebecca Clare Sanger

Zum ersten Mal, seit wir uns die Ziegen angeschafft haben, liege ich mit ihnen im Gras. Am Anfang haben sie mich und meine Apfelsaftflasche noch interessiert beschnüffelt und ich musste mich vor ihren Hörnern in Acht nehmen, während sie die Flasche vor den je anderen verteidigten. Als das Lämmchen mich irgendwann so richtig zu nerven beginnt, an mir knabbert und nach mir stößt, kommt Emily und schubst das Kleine fort, auf ein Weise, wie ich gar nicht schubsen kann. Bei mir denkt es bloß, ich will spielen.

Dass sie dem Kleinen gegenüber so gemein ist, ist auch der Grund dafür, dass Emily den Besitzer wechseln soll; die Führerziege muss auch weg. Seit der Geburt wird die Mutter des Lamms nämlich derartig schikaniert, muss immerzu Reißaus nehmen, dünn und mager auf der abgekauten Weide.

Heute können wir sie nun endlich auf das neue Gras lassen. Wir teilen die frisch eingezäunte Weide auf: Lamm und Mutter nach links, damit sie sich aneinander gewöhnen, die Aussortierten nach rechts. Aufmerksam probieren sie neue Schlafplätze aus, lecken an den umgehängten Salzsteinen, als hätten sie sie noch nie zuvor gesehen, schubbern sich am Heuballen. Und zwischendurch grasen sie immer wieder, so lange, bis sie müde sind. Das bin ich schon lange.

Und wir liegen im Gras, das duftet, nun im Mai, und auf einmal beginnen sie zufrieden zu grunzen, sie käuen wieder, lassen sich auf der jeweiligen Seite des Zaunes durch die Stäbe hindurch Seite an Seite nieder. Ich sinke in einen Tagtraum, in dem ich versuche, von den vier Ziegen zwei zu verkaufen und dennoch drei zu behalten.

Denn bei näherem Hinsehen trifft nichts von dem zu, was ich auf meinen kurzen, fluchend zugebrachten Weidegängen im Winter zu vernehmen meinte: „Die hassen einander, die sind zusammengewürfelt wie im Lager“, oder: „Die stoßen einander noch zu Tode, ich mache Hackfleisch aus dir, Hackfleisch!“ Ganz im Gegenteil: Nun, da wir endlich für gute Weidebedingungen gesorgt haben, in die Hackordnung eingegriffen und individuelle Möglichkeiten zum Füttern geschaffen, nun also geht es den Ziegen mit ihren verschiedenen Temperamenten ganz prächtig. Die Führerziege, auch nur ein unstetes, übergieriges Tier, lässt sich Hinterteil an Hinterteil mit dem Mobbingopfer nieder, dazwischen nur der Zaun. Emily, die Lammboxerin, liegt an der Seite des Lammes – bestechend in ihrem ruhigen Charakter. Die Mutter des Lammes frisst und schläft und frisst und schläft wieder, ungestört.

Nun greifen wir also nächste Woche schon wieder in ihr Leben ein, und mir graut vor dem Teilen der Herde. Wenigstens habe ich nicht voreilig und vor lauter Zorn im Winter Ziegen zu schlachten begonnen. Ich hoffe, sie werden es gut haben. Damit abfinden müssen sie sich nun so oder so.

Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht 14-täglich an dieser Stelle.