Kampf um den Basar

Der neoliberale Ökonom Hans-Werner Sinn versucht seine spektakulärste Theorie zu verteidigen. Doch damit wird er seine Kritiker nicht überzeugen. Selbst die Arbeitgeber haben Zweifel

VON ULRIKE HERRMANN

Deutschland ist Exportweltmeister, so viel ist unbestritten. Aber was verkaufen wir eigentlich in die anderen Länder? Der Ökonom Hans-Werner Sinn provozierte 2003 mit einer radikalen These: In Wahrheit sei Deutschland eine „Basar-Ökonomie“. Die Vorprodukte würden weitgehend aus dem Ausland stammen; in den hiesigen Fabrikhallen würden die Teile nur noch zusammen geschraubt und das Etikett „Made in Germany“ aufgeklebt. Der deutsche Erfolg – eine statistische Einbildung?

Diese These vertrat Sinn erstmals in seinem Bestseller „Ist Deutschland noch zu retten?“ 580 Seiten ist der Wälzer stark, nur ganze sieben füllt das Kapitel zur Basar-Ökonomie. Dennoch dominierte sie fortan die Diskussion. Selbst das Statistische Bundesamt befasste sich damit. Ergebnis: Sinn irrt. Zwar enthalten die einzelnen Exportgüter tatsächlich importierte Vorprodukte von durchschnittlich etwa 38 Prozent. Da aber die Ausfuhren steigen, würde auch im Inland mehr fürs Ausland produziert. Insgesamt profitiere die deutsche Wirtschaft vom Exportboom.

Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangten auch das Bundeswirtschafts- und das Bundesfinanzministerium. Besonders schmerzlich für den neoliberalen Sinn: Sogar das arbeitgebernahe „Institut der deutschen Wirtschaft“ in Köln distanzierte sich von ihm – in einer Studie, die die machtvolle Stimmungslobby „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ eigens bestellt hatte. „Deutschland ist keine Basar-Ökonomie“, heißt es dort explizit. Das war im Frühjahr.

Nun wehrt sich Sinn und hat der Basar-Ökonomie ein ganzes Buch gewidmet. Schon die „Vorbemerkung“ macht deutlich, wie einsam er sich fühlt. Sinn kontert mit dem Gestus des verkannten Genies: „Ich behaupte, dass meine Kritiker und große Teile der intellektuellen Elite unseres Landes die Natur … der Globalisierung noch nicht verstanden haben.“ Doch gleichzeitig stuft er die Basar-Ökonomie zu einer „Hypothese“ herunter.

Die Aufregung um die Basar-Ökonomie ist nur zu begreifen, wenn man versteht, wofür sie ein Argument sein soll. Es geht einmal mehr um die leidige Frage, die Neoliberale und Keynesianer fundamental trennt: Sind die Lohnkosten zu hoch – oder sind sie viel zu niedrig, um den Binnenmarkt zu beleben? Unbestritten ist nur, dass das „Schlusslicht“ Deutschland langsamer wächst als fast alle anderen Industrienationen.

Die Neoliberalen machen eine „Kostenkrise“ aus; mit den welthöchsten Stundenlöhnen seien die Deutschen nicht konkurrenzfähig. „Selbst schwedische Arbeiter sind 4 bis 5 Euro billiger pro Stunde“, trauert Sinn.

Die Keynesianer kontern stets, dass Deutschland Exportweltmeister sei. Also müssten die Löhne konkurrenzfähig sein. Dieses Argument fällt jedoch in sich zusammen, wenn man behauptet, der Exportboom sei nur „Etikettenschwindel“. Es ist also kein Wunder, dass Sinn so sehr an seiner Basar-These hängt.

Allerdings hat er sein Konzept inzwischen leicht verändert, damit es die Angriffe besser überlebt. So betont Sinn bei jeder Gelegenheit, dass er nie behauptet hätte, dass der Export nicht auch die inländische Produktion überdurchschnittlich ankurbelt. Gegen diese „Verballhornung“ verwahrt er sich. Mag ja sein, dass sämtliche Kritiker nicht lesen können, bleibt nur noch eine Frage: Wenn sich Sinn mit seinen Kontrahenten einig ist, wo liegt dann das Problem, das er als Einziger erkennt?

Es ist der Trend oder die „marginale Quote“, wie Sinn sie nennt. Im Durchschnitt würden tatsächlich nur etwa 38 Prozent eines Exportprodukts aus importierten Vorleistungen bestehen. Aber das gelte nicht mehr für die neuen Zuwächse bei den Ausfuhren: Dort würde jeder Export-Euro bereits Importe von 53 Cent enthalten.

Diese interessante Aussage ist leider nirgends belegt. Im Buch wimmelt es zwar von Statistiken und Grafiken, aber ausgerechnet die zentrale Behauptung wird empirisch nicht unterfüttert. Also hat sich der Wirtschaftsweise Peter Bofinger an die Arbeit gemacht, der als bekennender Keynesianer in einer Dauerfehde mit Sinn lebt. Ergebnis: Die amtlichen Import-Export-Daten stützen die neueste Variante der Basar-These überhaupt nicht. Von 2000 bis 2004 sind die Ausfuhren von deutschen Fertigwaren um 96,8 Milliarden Euro gestiegen. In der Welt von Sinn hätten dann auch die Importe um 53,3 Milliarden Euro zulegen müssen. Tatsächlich nahmen sie jedoch nur um 13,9 Milliarden Euro zu.

Sinn schweigt zu solchen Argumenten. Nur ganz allgemein räumt er ein, dass „debattierbar“ sei, „inwieweit die Mechanismen [der Basar-Ökonomie] in Deutschland tatsächlich ablaufen. Um hierzu endgültige Klarheit zu gewinnen, wird mehr empirische und theoretische Forschung notwendig sein.“ Leider vergisst Sinn auszuführen, wie die Studien konzipiert sein müssten, die ihn belegen könnten. Das mag damit zusammenhängen, dass ihn die Fakten gar nicht mehr so interessieren – Sinn verlangt es danach, „ein Werturteil fällen zu können“. Er erkennt in Deutschland die „fiebrige Überreaktion eines kranken Körpers“. Für dieses Bild hat er auch den Begriff des „pathologischen Exportbooms“ gefunden.

Sinn stellt sich die Zusammenhänge so vor: Weil die Löhne in Deutschland so hoch sind, lohnt es sich für die Kapitalbesitzer nicht, in arbeitsintensive Branchen zu investieren. Lieber schaffen sie ihr Vermögen ins Ausland, wo die Gehälter niedriger sind – oder sie engagieren sich in kapitalintensiven Exportindustrien, weil dort die Löhne keine große Rolle spielen. Daher zeigen die steigenden Ausfuhren nur, wie krank Deutschland in Wirklichkeit ist.

Besonders in Osteuropa vermutet Sinn enorme Expansionsmöglichkeiten für deutsche Unternehmer. Für ihn steht fest: „Der Wirtschaftsaufschwung in Polen beschleunigt sich.“ Das klingt stimmig, stimmt aber nicht. Tatsächlich mussten die Polen erleben, dass sich ihre Konjunktur abgeschwächt hat, seitdem sie der EU beigetreten sind. Auch die Arbeitslosigkeit steigt dort wieder. Die EU-Kommission hat längst ermittelt, wer bei der Osterweiterung gewonnen hat: die Deutschen.

Aber wozu Statistiken. „Ob Deutschland Globalisierungsgewinner ist … kann nur durch einen Blick auf den Arbeitsmarkt entschieden werden“, dekretiert Sinn. Und dort ist die Lage ja eindeutig: knapp 5 Millionen offizielle Arbeitslose. So ist Sinn angekommen, wo er angefangen hat. Die Argumente sind zwar unterwegs entfallen, aber die Annahme bestätigt sich tautologisch: „Das zentrale Problem ist und bleibt das Niveau der deutschen Lohnkosten.“

Erstaunlich allerdings: Diesmal legt sich Sinn nicht mehr fest, wie stark die deutschen Löhne sinken müssen. In seinem letzten Bestseller war er da konkreter und forderte einen Abschlag von 15 Prozent, bei den Niedriglöhnen sogar 30 Prozent.

Sinn lebt in einer Welt der Statik: dass die anderen Ländern ihre Löhne dann ebenfalls senken könnten, kommt bei ihm nicht vor. Nur vage räumt er ein, dass man den Lohnwettbewerb mit China und Osteuropa „nicht gewinnen kann“. Aber das beeinträchtigt den Fortgang seines Buches nicht, schließlich behandelt er Phänomene, die „quasi den Charakter von Naturgesetzen“ haben. Seltsam nur, dass er sie als Einziger erkennt.

Hans-Werner Sinn: „Die Basar-Ökonomie. Deutschland: Exportweltmeister oder Schlusslicht?“. Ullstein, Berlin 2005, 247 Seiten, 14,95 €ĽHans-Werner Sinn: „Ist Deutschland noch zu retten?“. 8. Auflage, Ullstein, Berlin 2005, 580 Seiten, 13 €