Zweite Luft im Hochgebirge

Comeback Vincenzo Nibali ist lange das Rätsel dieses Giro d’Italia. Zunächst kann er sich selbst nicht erklären, warum andere schneller sind. Ein Kraftakt auf den letzten Alpenetappen und der Sturz eines Konkurrenten bringen ihm dann doch noch den Gesamtsieg

Auf dem Weg zu Rosa: Vincenzo Nibali (Mitte) und zwei Teamkameraden unterwegs in den piemontesischen Alpen Foto: ap

Aus Turin Tom Mustroph

Mit einem Skript, wie es dieser Giro d’Italia geschrieben hat, hätte der Drehbuchautor kein Filmstudio und keinen Produzenten gefunden. Zu unwahrscheinlich hätte es geklungen. Acht verschiedene Träger hatte das Rosa Trikot. In den letzten drei Tagen wechselte es zweimal den Besitzer. Erst vom Niederländer Steven Kruijswijk, der schon wie der sichere Gewinner ausgesehen hatte, zum Kolumbianer Esteban Chaves. Der Bergfloh aus den Anden sah vor der letzten Bergetappe schon wie der Triumphator aus. Doch dann kam Vincenzo Nibali.

Der gedemütigte Favorit, der im Bergzeitfahren eingebrochen war und in den Dolomiten die Konkurrenz davonfahren lassen musste, zeigte Comebackqualitäten, wie sie selbst in diesem Sport der harten und ausdauernden Männer nur selten anzutreffen sind. Mehr als vier Minuten Rückstand hatte der Astana-Kapitän vor den zwei Alpentagen. Vom Podium war er als Gesamtvierter ebenfalls gefallen. Ratlos war er auch. „Ich fühlte mich, anders als bei der Tour im letzten Jahr, eigentlich gut in Form. Aber ich konnte die Leistung nicht auf die Pedalen bringen“, meinte er. Dann aber wurde auf dem Dach des Giro, dem 2.744m hohen Colle dell’Agnello, alles anders.

Nibali sah plötzlich frisch aus. „Auf mehr als 2.000 Höhenmetern fühlte ich mich besser“, erklärte er. Er attackierte im Anstieg – nur Kruijswijk und Chaves konnten folgen. Bei der rasanten Abfahrt schließlich stürzte der Niederländer. Das war der Schlüsselmoment dieser Rundfahrt. Während Kruijs­wijk in den Schnee flog, sein beschädigtes Rad am liebsten in denselben geworfen hätte und es erst später gegen ein Ersatzrad ausgetauscht bekam, stürmten Nibali und Chaves davon.

Der Italiener holte sich den Etappensieg und kehrte aufs Podium zurück. Der Kolumbianer zog Rosa über. Kruijswijk konnte mit gebrochener Rippe und schmerzendem linken Fuß zumindest noch den dritten Rang gegenüber Alejandro Valverde verteidigen. Chaves schien danach der König dieses Giro.

Der Kletterer aus den Anden vom australischen Rennstall Orica war bis dahin der stärkste Kletterer des Giro. Dass er Rosa nur wegen des Sturzes von Kruijs­wijk trug, minderte für ihn den Wert nicht. „Wenn ein Rennen gestartet ist, dann gibt es kein Halten mehr“, meinte er. Und Kruijswijk selbst gab nicht nur einen eigenen Steuerfehler zu. Er meinte auch trocken: „Zum Radsport gehört auch, dass man auf dem Rad bleibt.“

Auf den 134 Kilometern vom französischen Guillestre zum Wallfahrtsort der heiligen Anna von Vinadio im Piemont schließlich lieferte Nibali sein Meisterstück ab. Am Colle della Lombarda zermürbte eine so brutale wie lang andauernde Tempoverschärfung von Nibalis Helfer Michele Scarponi die Konkurrenz. Nur sechs Mann konnten folgen, darunter ­Chaves, Valverde und auch der mit krankem Fuß und gebrochener Rippe steif auf dem Rad sitzende Kruijswijk. Als Nibali schließlich zur Attacke blies, hielt niemand mehr mit. Unterwegs fand der Astana-Kapitän noch Hilfe durch seinen Mannschaftskameraden Tanel Kangert. ­Chaves hatte solche Hilfe nicht. Kein Orica-Trikot war vorn, Nibali holte Rosa. Chaves blieb wenigstens Gesamtzweiter, der bedauernswerte Kruijs­wijk verlor den dritten Platz aber an Valverde.

„Wäre Kruijswijk nicht gestürzt, wäre er wohl noch immer in Rosa“, meinte Astanas Sportdirektor Giuseppe Martinelli ehrlich. Weil Radsport aber keine Was-wäre-wenn-Sportart ist, durfte sich Nibali nun zum zweiten Mal als Giro-Champion feiern lassen.

Nun nimmt er das nächste Ziel in den Blick: den Olympiasieg.