Exzessive Gegenaufklärung

VORLESUNGSKRITIK Peter-André Alt spricht über de Sade und die „Ästhetik des Bösen“

Der Vorlesungssaal ist trotz Bildungsstreik voll. Die ersten Reihen sind allerdings von SeniorenstudentInnen besetzt, die jede Andeutung von Unmoral – zum Beispiel „Wer sich mit diesem Autor beschäftigt, braucht starke Nerven“ – mit Gekicher quittieren. Unmoralische Andeutungen gibt es genug, denn Peter-André Alt spricht über das Werk Marquis de Sades und dessen „exzessive Gegenaufklärung“, wie die Sitzung betitelt ist.

Alt nimmt jedoch alle Störungen durch Gekicher und klingelnde Handys mit Gleichmut hin – auch wenn seine Stimme den Vorlesungsraum ohne Mikrofon nur gerade so füllt. Alt hat eine akademische Bilderbuchkarriere hinter sich, mit 24 fertig studiert, Promotion über Mann und Musil im gleichen Jahr, mit 35 Jahren ordentlicher Professor. Sein Werk umfasst 13 Monografien, fünf Sammelbände und zirka 80 Aufsätze, darunter die Standardbiografie zu Schiller und eine über Kafka.

Jugendlich, eher wie ein frischer Privatdozent wirkt er, ohne Krawatte, dafür mit Brille, blauem Hemd und schwarzem Sakko. „Das Böse ist an das Strukturmodell der Wiederholung gekoppelt“, sagt er, und „seine Wiederholung hat eine geradezu energetische Dimension.“ Das ist die These seiner nächsten großen Veröffentlichung, die um die „Ästhetik des Bösen“ gehen wird. Große Namen hat Alt – siehe Schiller, Kafka – noch nie gescheut, deswegen kommen in den eineinviertel Stunden Vorlesung auch fast alle vor, die nach de Sade irgendwie philosophisch wichtig waren: Nietzsche, Adorno, Barthes, Bataille, Klossowski, Camus, de Beauvoir, Kierkegaard, Luhmann, Jünger.

Oft leicht geduckt steht Alt, und mit seltsam einstudiert wirkenden Gesten trägt er seine Ideen vor: „Die Lust vollzieht sich in der Imagination des Schreibenden“, sagt er. Doch wie groß der Lustgewinn beim Leser ist, ist ungewiss, denn „Monotonie ist das Grundmuster der de Sade’schen Texte“. Der Stil habe eine „desinteressierte Beiläufigkeit“, das Prinzip sei „serielle Wiederholung statt Überschreitung“ – die Alt-These zu de Sade. Damit widerspricht er seinen alles überschreitenden poststrukturalistischen Vorinterpretanten.

Da sind viele gedanklich aber schon ganz woanders. Bei der Textarbeit an de Sades „Justine“ flaut die Spannung etwas ab. Denn statt der Wiederholung von Orgien und Exzessen, gibt es höchstens philosophische Zitate. Mein Sitznachbar beginnt an seinen Nägeln zu kauen und mit den Zähnen zu knirschen, von irgendwo hinten hört man ein leises Rauschen wie von einer Klimaanlage. Auch kommt das von den Studierenden gerade durch den Bildungsstreik bekämpfte Böse – trotz der energetischen Dimension des Protests – freilich nicht vor. Würde de Sade ein hehres Ziel wie Bildungsgerechtigkeit nicht eh ablehnen? Wo „das Moralische darauf zielt“, so Alt, „bewundert zu werden und deshalb eine Form des Egoismus ist.“ ELIAS KREUZMAIR

■ Die nächste Vorlesung zur „Ästhetik des Bösen“ handelt von Heinrich von Kleist. Heute um 14 Uhr in der Rost-/Silberlaube der FU Berlin, Raum KL 32/123