Der Sprung von Onkel Otto

REENACTMENT Der Choreograf Kiriakos Hadjiioannou inszeniert in einer Performance Brechts Film „Kuhle Wampe“ am Müggelsee

Die Berliner S-Bahn war mal ein Kampfplatz der Solidarität. Zumindest in Slatan Dudows und Bertolt Brechts Film „Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?“ von 1932. Da sangen in der Abschlussszene Arbeiter und Arbeitersportler auf der Heimfahrt vom Zeltplatz Kuhle Wampe am Müggelsee in das von der Weltwirtschaftskrise gebeutelte Berlin von der „Einigkeit der Völker“. Die führe, so Brecht, zum Essen für alle.

Ab Freitag kann man bei einer S-Bahn-Fahrt nach Köpenick einer Wiederbegegnung mit dem Stoff entgegenblicken. Gut, der Zeltplatz dieses Namens ist nicht identisch mit dem Originalspielort des Films. Der lag einige Kilometer entfernt und wurde 1935 von den Nazis geschlossen, weil ihnen die zeltenden Proletarier zu wenig national und viel zu sozialistisch waren. „Kuhle Wampe“ ist diesmal ein Tanzkunstprojekt der So­phien­sæle auf dem Zeltplatz. „Aber die Fahrt mit der S-Bahn hinaus ins Grüne stellt schon eine Reise in eine andere Welt dar“, verspricht Wilma Renfordt, Dramaturgin des Projekts.

Unheimliche Parallelen

Entstanden ist es, weil den griechischen Choreografen Kiriakos Hadjiioannou der Dudow-Brecht-Film beim ersten Sehen so ungeheuer an die Situation in seinem Heimatland erinnert habe, erklärt Renfordt: Zum Beispiel die Arbeitslosigkeit im Nach-Millenniums-Griechenland. Wirtschaftskrise hier wie da. Aber eben auch jede Menge solidarischer Initiativen. Darauf legt diese Neufassung von „Kuhle Wampe“ besonderen Wert. Deshalb wird auch Margarita Tsomou, eher bekannt als Aktivistin und Journalistin, in­ einer Szene von Solidaritätspraktiken in Griechenland erzählen.

Mit vielen assoziativen Verbindungen bezieht sich das Tanzstück auf den Film. Einzelne Szenen und Themenkomplexe werden neu bearbeitet. Dass Marschieren eine Rolle spielt, durfte man bereits bei dem Trailer zu Hadjiioannous Basler Version von „Kuhle Wampe“ (2014) beobachten. Die Tänzer nehmen dort eine Marschformation ein, vereinzeln sich aber über horizontale Zuckungen aus dem vertikal organisierten Muster. Wie ein Kollektivbewusstsein wahrgenommen werden kann, wir auch thematisiert. Tänzer stellen in einem choreografischem Sonnensystem Planeten dar – und müssen reagieren, wenn ein Mitplanet Umlaufbahn oder Geschwindigkeit verändert. Das ist noch nicht getanzte Solidarität, aber zumindest Aufmerksamkeit für einen, der aus dem System herauszufallen droht.

Bekannteste Szene

Auch die bekannteste Szene des Films taucht auf: der Sprung von Onkel Otto in den Müggelsee. Der Partygast war von seinen Begleitern aus Sorge um die Verletzungsgefahr aufgrund von Alkoholkonsum zurückgehalten worden. Mit dem Satz „Mein Körper gehört mir“ entzog er sich der Fürsorge. Was zu Brechts Zeiten neben aller Komik noch als Anspielung auf das damals umkämpfte Recht auf Abtreibung verstanden werden konnte, hat heute das Zeug zur Protesthymne gegen Arbeitgeber der IT- und Krea­tiv­industrie. Sie wollen über Körper und Geist ihrer Beschäftigten selbst in der Freizeit verfügen.

Gespannt darf man auf die Resonanz des Publikums sein; angereiste Kultur-Hipster und Vorstadtcamper könnten sich mischen. Dazu kommt es in dieser Form eher selten. Und es gibt große Konkurrenz zur Fußball-EM. Zu Brechts Zeiten trugen Arbeitersportler am Müggelsee noch selbst Wettkämpfe aus. Jetzt ist der Armzug mit Bierkrug in sitzender Haltung die verbreiteste sportliche Disziplin. Es sind andere Zeiten.

Tom Mustroph

17. bis 19. 6., 18 Uhr, Zelt­platz Kuhle Wampe, Straße zur Krampen­burg, Shuttlebus: 17 Uhr vom S-Bahnhof Köpenick, Karten 18/12 Euro (Buchung über Sophien­sæle)