Großbritannien Für Flüchtlinge, für Frauen, für Europa. Jo Cox war eine Abgeordnete mit starken Prinzipien
: Eine Naturgewalt

Helen Joanne „Jo“ Cox (22. Juni 1974–16. Juni 2016) Foto: Yui Mok/empics/picture alliance

von Ralf Sotscheck

Sie galt als große Hoffnungsträgerin der Labour Party. Und obwohl sie erst vor einem Jahr ins britische Unterhaus gewählt worden war, hatte sie bereits von sich reden gemacht als eine, die mit entwaffnendem Lächeln ihre Ideale vertritt: als Flüchtlingshelferin, als Feministin, als Proeuropäerin.

Am Donnerstag hatte die Unterhausabgeordnete Jo Cox gerade die Sprechstunde in ihrem Wahlkreis beendet, als sie in Birstall in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire niedergestochen und niedergeschossen wurde. Wenig später starb sie im Krankenhaus.

Am Tag danach trauerte die gesamte britische Politik: „Eine Naturgewalt“, schrieb der konservative Abgeordnete Andrew Mitchell, der sich mit ihr für mehr humanitäre Hilfe in Syrien einsetzte, in einem Nachruf. Und Expremier Gordon Brown, der ebenfalls mit ihr zusammengearbeitet hatte, nannte sie „die lebhafteste, sympathischste und engagierteste Freundin, die man jemals haben kann“. Kommenden Mittwoch wäre sie 42 Jahre alt ­geworden.

Helen Joanne Cox, genannt Jo, kam 1974 in Batley auf die Welt. Ihr Vater arbeitete in einer Kosmetikfabrik, ihre Mutter war Schulsekretärin. In den Ferien jobbte Cox in derselben Fabrik wie ihr Vater, sie packte Zahnpastatuben in Kisten. Nach ihrem Schulabschluss am Gymnasium Heckmondwike studierte sie Sozialwissenschaften und Politik in Cambridge.

Ungeplant ins Unterhaus

Welch große Rolle ihre Herkunft aus einer Arbeiterfamilie an der Eliteuniversität spielen würde, damit habe sie nicht gerechnet, sagte Cox vor Kurzem in einem Interview mit der Yorkshire Post: „Mir wurde klar, dass es wichtig ist, wo du herkommst, wie du sprichst und wen du kennst.“ In Cambridge begann sie sich für Politik zu interessieren und wechselte nach ihrem Abschluss als politische Beraterin zu der Labour-Abgeordneten Joan Walley und danach zu derr Europaabgeordneten Glenys Kinnock.

Später ging sie als Politikchefin zur Dritte-Welt-Organisation Oxfam und verbrachte einige Zeit im Ausland, war in Dafur, Uganda und Afghanistan. Ihr Nachfolger Max Lawson sagte über seine ehemalige Chefin: „Jo war eine brillante Aktivistin von grenzenloser Energie und Freundlichkeit, die einen enormen Beitrag für Oxfam geleistet hat.“

Zurück in Grobritannien, nahm Cox an einer Gesundheitskampagne für Frauen und Kinder teil, die von Sarah Brown, der Frau des Expremierministers Gordon Brown, gegründet worden war. Cox war Vorsitzende des Labour Women’s Network, dessen Ziel es ist, mehr Frauen ins Unterhaus zu bringen. Es bietet potenziellen Kandidatinnen Beratung und Training an. Am Donnerstagabend ist Rosena Allin-Khan bei einer Nachwahl in Tooting gewählt worden. Sie wäre Labours hundertste Unterhausabgeordnete gewesen. Durch den Mord an Cox bleibt es vorerst bei 99.

Eigentlich hatte Cox noch gar nicht vor, für das Unterhaus zu kandidieren, doch als die Labour-Kandidatur für Batley und Spen, ihren Geburtsort, voriges Jahr frei wurde, griff sie zu und wurde mit deutlicher Mehrheit gewählt. Sie war eine von 36 Abgeordneten, die Jeremy Corbyn im Sommer als Kandidaten für die Labour-Führung nominierten. Bei der Wahl stimmte sie jedoch für Liz Kendall, die auf dem letzten Platz landete. Im Mai schrieb Cox in einem Artikel für den Guardian, dass sie Corbyn nur deshalb nominiert habe, um eine Debatte in der Partei anzuschieben. Inzwischen bereue sie ihre Entscheidung.

In dem Artikel kritisierte sie Corbyn für seine „schwache Parteiführung, schlechtes Urteilsvermögen und falsche Setzung von Prioritäten“. Gegen Corbyns Willen forderte sie ein humanitäres militärisches Eingreifen in Syrien, enthielt sich jedoch bei der Abstimmung über Luftangriffe gegen den „Islamischen Staat“ und kritisierte das Fehlen einer Gesamtstrategie für die Region. Zusammen mit dem Tory Andrew Mitchell, früher Entwicklungsminister unter David Cameron, baute sie einen überparteilichen Syrien-Parlamentsausschuss auf.

Morddrohungen im März

Die passionierte Bergsteigerin musste, seit sie ins Unterhaus gewählt wurde, ihre sportlichen Aktivitäten einschränken: Sie radelte vom Hausboot auf der Themse in der Nähe der Tower Bridge, auf dem sie mit ihrem Mann Brendan und ihren beiden kleinen Kindern – der dreijährigen Lajla und dem fünfjährigen Cuillin – lebte, zum Unterhaus.

Cox setzte sich vehement für Großbritanniens Verbleib in der Europäischen Union ein, worüber das Land am kommenden Donnerstag abstimmen muss. Ob der Mord im Zusammenhang mit dem Referendum steht, ist bisher nicht sicher. Alex Massie stellt einen solchen Zusammenhang in seinem Kommentar für den Spectator her. „Wenn man Tage, Wochen, Monate, Jahre damit verbringt, Menschen zu erzählen, dass sie in Gefahr sind, dass ihnen ihr Land gestohlen wurde, dass sie verraten und verkauft worden sind, dass ihr Geburtsrecht stibitzt worden ist, wird irgendwann irgendwo jemand durchdrehen“, schrieb er. „Und dann passiert etwas ­Schreckliches.“

„Jo hat an eine bessere Welt geglaubt, und jeden Tag dafür gekämpft“, schreibt ihr Mann Brendan

Im März hatte Cox bereits Morddrohungen erhalten und sie der Polizei gemeldet. Die nahm daraufhin einen Mann vorübergehend fest. Mit dem Attentat habe der aber nichts zu tun, gab die Polizei bekannt.

Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um den 52-jährigen Thomas Mair. Er soll mit einem Jagdmesser und einer selbst gebauten Waffe auf die Parlamentarierin losgegangen sein. Während der Attacke, so berichteten zwei Augenzeugen, habe er „Britain First“ gerufen – „Großbritannien zuerst“. Das ist auch der Name einer rechtsex­tremen Organisation. Deren Vizechefin Jayda Fransen bestritt jedoch jedwede Beteiligung und verurteilte die Tat. Mair soll die Bauanleitung für die Waffe von einer rechtsradikalen US-Organisation gekauft haben.

Sein Halbbruder Duane St. Louis sagte jedoch, Mair habe nie irgendwelche rassistischen Ansichten geäußert. Er habe mehrere Jahre an einer Schule für behinderte Kinder gearbeitet und später als Aushilfsgärtner gejobbt. Er habe stets für die Mutter die Einkäufe erledigt und noch am Mittwoch ihren Fernseher repariert.

Mair ist bei seiner Großmutter Helen in der Fieldhead-Siedlung ganz in der Nähe des Tatorts aufgewachsen. Sie starb vor zwanzig Jahren, Mair blieb in dem Haus. Seine Nachbarn beschrieben ihn als freundlich und hilfsbereit, er sei jedoch ein Einzelgänger. Als er jünger war, habe er eine Freundin gehabt, doch sein Kumpel habe sie ihm ausgespannt, sagte St. Louis: „Danach wollte er keine Freundin mehr.“

Mair besuchte das Pathway Day Centre für Erwachsene mit psychischen Problemen. 2010 erzählte er dem Huddersfield Daily Examiner, dass ihm das mehr geholfen habe als jede Psychotherapie oder Medizin: „Viele Menschen, die unter einer solchen Krankheit leiden, fühlen sich wertlos und sind ­sozial isoliert“, sagte er. „Diese Probleme werden durch ehrenamtliche Arbeit gemildert.“

Cox Mann Brendan sagte: „Jo hat an eine bessere Welt geglaubt und jeden Tag dafür gekämpft.“ Es wäre ihr Wille ge­wesen, dass alle gemeinsam gegen den Hass kämpfen, der sie getötet habe. Er und die Kinder stünden vor einem neuen ­Kapitel in ihrem Leben: „Schwieriger, schmerzhafter, mit weniger Freude und weniger Liebe.“