Im Schaufenster liegt ein Autowrack

Reise Zwei Jahre lang beschäftigen sich Künstler*innen im Projektraum Kurt-Kurt in Moabit mit Migration und Flucht

Sie läuft barfuß. An ihren Knöcheln sind Springerstiefel festgebunden. Entschlossen schleift sie die Doc-Martens-Schuhe hinter sich her. Zum einen erregt die junge Frau Mitleid, wie sie sich vorwärtsschleppt, ihre nackten Füße auf dem Bürgersteig, zum anderen beeindruckt sie durch ihre Anmut, wie sie jeden Schritt ganz bewusst geht und trotz der Pausen in Bewegung bleibt.

Vor allem ist die Situation urkomisch: Die Menschen drehen sich nach ihr um, bleiben stehen, schauen sie an. Fragende Blicke. Verwirrte Gesichtsausdrücke. Viele lachen, niemand spricht sie an. „Wie gemein!“, denkt man, als eine Hand einen ihrer Schuhe umwirft. Die Frau stellt ihn wieder auf, setzt einen Fuß weiter, die Stiefel folgen ihr.

Die per Video dokumentierte Performance von Mona Hatoum fand bereits im Jahr 1985 in London statt. Die palästinensisch-britische Künstlerin reagierte mit der Aktion auf die damaligen Unruhen, die rassistische Hintergründe hatten. Die Videoarbeit „Roadworks“ ist grotesk, in ihrer Bedeutung vielschichtig: Sie erzählt von Gewalt, Konfrontation, Flucht, vom Ankommen, wortwörtlich Fußfassen und dem Willen, nicht aufzugeben. Seit vergangenen Samstag ist der rund siebenminütige Film zusammen mit zwei anderen Kunstwerken im Projektraum „Kurt-Kurt“, im Geburtshaus Kurt Tucholskys, in Moabit zu sehen.

Es ist die zweite Ausstellung (bis 30. Juli) innerhalb der zweijährigen Projektreihe „sans papiers – Das Leben ist eine Reise“. Die Kuratoren Simone Zaugg und Pfelder arbeiten dabei mit Künstler*innen zusammen, die unterschiedliche Erfahrungen mit den Themen Migration und Flucht gemacht haben. Im ersten Teil des Projekts präsentieren sie Werke von Künstler*innen, die sich in der Kunstszene Berlins bereits etabliert haben. Hatoum zum Beispiel wuchs in einer palästinensischen Familie im Libanon auf. Als sie Mitte der 70er Jahre England bereiste, brach im Libanon der Bürgerkrieg aus. Sie konnte nicht mehr zurückkehren und lebt seitdem in London und Berlin.

Als nächster Schritt wollen Zaugg und Pfelder Künstler*innen kontaktieren, die erst seit Kurzem als „sans papiers“ nach Berlin gekommen sind. „Sans papiers“ bezeichnet Menschen, die ohne Genehmigung einreisen oder sich ohne gültige Papiere im Land aufhalten. Über Dinner-Lectures und Tandem-Projekte soll ein Austausch entstehen zwischen den Berliner Künstler*innen und den erst vor kurzem Angekommenen.

Überwachung LAGeSo

Die derzeitige Ausstellung ist klein, aber ein Besuch lohnt sich. In der Küche des Projektraums befindet sich am Fenster ein Holzkasten, in den man mit einem Tritthocker hinaufsteigen kann. Mit einem Fernglas kann man versuchen, in die Räume des gegenüberliegenden Hochhauses zu spähen. Bei den Nachbarn handelt es sich um das LAGeSo – Sinnbild für die Probleme bei der Aufnahme und Betreuung Geflüchteter in Deutschland. Der zweite Teil des Kunstwerks „Observierung“ des deutschen Künstlers Hans Hs Winkler befindet sich im Nebenzimmer. Auf einem Bildschirm sieht man den Blick durchs Küchenfenster, eine Überwachungsaufnahme. Auf einem zweiten Bildschirm sieht man den Künstler, wie er zwischen einem Mann und einem Jungen auf einem Hocker sitzt. Das Foto entstand in den 70er Jahren in der Altstadt der syrischen Stadt Aleppo, die heute größtenteils zerstört ist.

Im Schaufensterraum liegt ein Autowrack, das hochkant auf Holzrollbrettern festgegurtet ist. An der Wand dahinter ist ein arabisches Wort aus Beton und dünnen Eisenstangen gebildet: Al-risala, auf Deutsch „Die Botschaft“. Der syrische Künstler Manaf Habouni, der seit 2009 in Deutschland lebt, hinterlässt mit seiner Installation „The Message“ eine Nachricht für alle, die auf das Ende ihrer Reise warten. Das Werk löst ein mulmiges Gefühl aus. Man fragt sich, was das Auto und seine Insass*innen erlebt haben und wo sie letztlich angekommen sind.

Julika Bickel

Kurt-Kurt, Lübecker Str. 13, Do.–Sa., 16–19 Uhr. „Die Nachtschicht vom LAGeSo“ am 14. Juli, 19 Uhr. Dialog von Durs Grünbein und Via Lewandowsky über das Leben und das Reisen, am 20. Juli, 19 Uhr