Hausbesuch Sie hat vieles abgebrochen: Jobs, Ausbildungen, Beziehungen. Jetzt wohnt sie in einem Haus, wo auch viele Romafamilien leben, malt dort und will mithelfen, die alten Mieter mit den neuen zu versöhnen
: Komm her, geh weg

Ki Flick, in ihrem Atelier/Büro/Schlafzimmer in Berlin-Reinickendorf: „Ich hatte einen Wunsch nach Weite“

Von Waltraud Schwab(Text) und Miguel Lopes(Fotos)

Zu Besuch bei Kirsten Flick in Berlin. Eine Hartnäckige, die das Ankommen sucht.

Draußen: Ein Haus im Bezirk Reinickendorf: 24 Mietparteien, 9 Nationalitäten – Roma und Deutsche stellen die größte Gruppe. Das Wohnumfeld ist laut: vorne die Straße, hinten die U-Bahn, darüber Flugzeuge. Bevor das Haus vor zwei Jahren an die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag ging, lebten die Roma illegal hier. Die Gewobag gab ihnen Mietverträge. Jetzt müssen alle das Zusammenleben hinbekommen.

Drin: Ki Flick lebt seit einem Jahr im Haus. Die Gewobag bat sie, sich bei der Versöhnung zwischen den Altmietern und den Roma einzubringen. Beim Einzug kaufte sie sich mehrere Rollen Tapete mit verschiedenen Mustern und nahm sie als Ausgangspunkt der Gestaltung. Streifen neben Blumen. Ornamente neben Vierecken. Manchmal schnitt sie Blumen aus der Tapete und verlängerte das Muster damit auf der weißen Wand.

Namen: Kirsten heißt sie eigentlich – der Name sei leicht zu verhunzen. „Kiki“, „Kirsche“, „Kiste“. Oder „Key“ – Schlüssel. Das war der Kosename, den ihr letzter Liebhaber ihr gab – eine Männergeschichte, ein Desaster.

Ki Flick ist 1960 in Reinickendorf geboren. Ihr Vater war Mitglied der SS-Leibstandarte Hitlers. Flick fragte ihn oft, was er damals gemacht hat. Der Vater, nach dem Krieg Obsthändler, wich aus. Mit 17 schmiss Ki Flick die Schule, mit 18 zog sie aus. „Ich bin eine Abbrecherin.“

Was sie abbricht: Abbrechen und erbrechen – die Wörter sind verwandt. Als sie alleine wohnte, war das ein Schock. Sie entwickelt Bulimie und meint, sie hätte Bulimie erfunden. „Ich dachte, kein Mensch außer mir kann so bekloppt sein, den Einkauf einer Woche in sich hineinzustopfen und dann wieder auszukotzen“. Ein halbes Pfund Butter, ein Laib Brot, eine halbe Leberwurst, Schokolade. Rein und wieder raus. „Ich habe mich vor mir selbst geekelt.“ Einmal las sie in einer feministischen Zeitschrift, dass es Bulimie gibt und dass es eine Sucht ist. Dass ihre Idiotie nun einen Namen hatte, tröstete sie. Aufhören konnte sie nicht. Nachdem sie erst Akkordarbeit gemacht hat, bewirbt sie sich für ein Praktikum im Kempinski, weil sie Diätassistentin werden will. „Ich als Bulimikerin in der Küche des Hotels!“ Das Praktikum macht sie, die Ausbildung bricht sie ab. Zehn Jahre später, nach einer Ehe, zwei Kindern, einer Scheidung, lernt sie Ergotherapeutin. Diese Ausbildung beendet sie, aber sie will den Job nicht machen. Ergotherapie soll neben der Gesundheit auch die Arbeitsfähigkeit wiederherstellen. „Ich finde das nicht gut, dass Arbeitsfähigkeit das wichtigste Kriterium ist.“

Nicht Fisch, nicht Fleisch sein:

Außen: Der Innenhof, von Künstlern bemalt

Sie erzählt, dass sie als Jugendliche sprachlos wurde, „weil ich für Regungen und Gefühle keine Worte fand“. Sie sei „nicht Fisch, nicht Fleisch gewesen, nicht wissend, wo es hingehen soll.“ In der Familie war Anpassung groß, „ich hatte aber einen Wunsch nach Weite.“

In die Enge getrieben: Und dann heiratet sie mit 25 einen Sizilianer. Warum? „Weil er grüne Augen hatte. Weil er fantastisch tanzen konnte. Weil ich ein abhängiges Mädchen war, Bulimikerin, jung, und keine Ahnung hatte, was eine intakte Beziehung ist.“ Der Mann, Choleriker, „wie der mit mir gesprochen hat“, trotzdem, meint sie, habe er ihr Halt gegeben. Als eine Erzieherin in der Kita sie fragt, ob sie Angst vor ihrem Mann hat, passiert etwas in ihr: Sie sieht sich von außen, fordert Respekt, leitet die Trennung ein. „Mit der Wiederbelebung meines aggressiven Potenzials verschwindet die Bulimie.“

Ein Junge sein wollen: „In mir ist es immer so, dass ich mich sehr wenig auskenne.“ Sie wollte ein Junge sein und unterdrückte, meint sie, das Männliche in sich. Aber als sie ihren Vater tot sah, eingerollt wie ein Embryo, erkannte sie in seiner toten Gestalt plötzlich auch das unterdrückte Weibliche. Das wollte sie festhalten. Aber wie? Da hatte sie die Idee, eine Fotoausstellung mit nackten Männern zu machen, die in weichen, verletzlichen, schutzlosen Posen abgebildet sind. Mit der Ausstellung zieht sie eine Zeit lang durch Berlin.

Der Schattenweg: Nach der Trennung vom Sizilianer arbeitet sie 15 Jahre als Altenpflegerin. „Die längste Zeit, die ich was durchgehalten habe.“ Und dann trifft sie 2009 diesen Mann, der sie „Key“ nennt. Sie sollte was aufschließen. Schon beim ersten Spaziergang fällt sie hin. „Der Mann hat mich umgehauen.“ Heute meint sie, ihr Körper nahm viel früher wahr, was sie nicht wahrhaben wollte. „Der Mann hat mich an ’ne Grenze gebracht.“ Mit ihm sei sie den „Schattenweg“ gegangen. „Der Teil von mir, der noch nicht belichtet war.“ Der Mann lebt in Potsdam, zieht dann in die Türkei, sie löst ihre Wohnung auf, folgt ihm. Es ist eine Komm-her-geh-weg-Beziehung. Sie endet, als er sie grün und blau schlägt und aus der Wohnung in Istanbul wirft.

Sich berappeln: Sie bleibt noch eine Weile in der Türkei, guckt sich den Scherbenhaufen an, „ich wollte doch immer in mir zu Hause sein, auch in der Fremde“. Und dann geht sie zurück nach Berlin und findet die Wohnung in Reinickendorf.

Innen: Die Küchenlampe, aus Resten gebaut

Das Zusammenleben im Haus:

„Jeder hat sein Leben im Haus, auch die Roma. Man grüßt sich, hallo, guten Tag.“ Sie hat unten im Hof, in dem nichts als nackter Boden ist, mit Romakindern einen Wäschekorb aufgestellt, in dem sie Sonnenblumen zieht. Mit den großen Kindern ist sie auch schon zu Ausstellungen gefahren und hat Kuchen mit ihnen gebacken. „Aber unbedingt helfen muss man den Roma nicht. Die sind eigen. Nur dass man respektvoll miteinander umgeht, das ist das A und O.“

Wie es weitergeht? Derzeit lebt sie von Hartz IV. Das will sie auf Dauer nicht, aber wieder Altenpflege machen? Sich das vorzustellen, fällt ihr schwer. Der Stress, die ständige Verfügbarkeit, das wenige Geld, dass es nicht um den Menschen, nur um die Verrichtungen an ihm geht, „so kann man Altenpflege nicht machen“. Lieber wäre sie selbstständig. „Es wäre so schön, wenn ich von den Dingen, die ich aus mir heraus schöpfe, leben könnte.“

Wann ist sie glücklich? „Wenn ich kreativ bin, an einem Bild male. Wenn ich so richtig drin bin und alles andere vergesse.“