Verkehrsübung für Europa

Raumexperiment Das Project Space Festival stellt einen Monat lang Projekträume in Berlin vor und lädt seine BesucherInnen ein, ihnen bisher unbekannte Orte zu entdecken

Wenn jetzt noch Wind wäre, könnte man auf der Flagge die Sterne der Europaflagge vor einem aufreißenden blauen Himmel sehen Foto: Stefan Boness

von Nina Monecke

Eingezäunt und mit dichtem Grün bewachsen ist der Verkehrsübungsplatz für Kinder „Tacho“ in Kreuzberg von der Straße aus für Passanten kaum sichtbar. Obwohl zentral zwischen den U-Bahnhalte-Stellen Kottbusser Tor und Prinzenstraße gelegen, sind die meisten Besucher heute zum ersten Mal hier. Im angrenzenden Park mit Spielplatz sitzen Jugendliche auf den nassen Holzbänken und spielen blecherne Musik von ihren Handys ab.

Ein älteres Trio in Trainingsanzügen hockt im zugemüllten Gebüsch und reicht Plastik- und Papiertütchen herum. Man weiß nicht, ob man schmunzeln oder besorgt sein soll bei dem Gedanken, dass hier nur zehn Meter weiter sonst kleine Kinder Fahrradfahren lernen.

Tritt man durch das schwingende Stahltor von Tacho, entscheidet man sich dann doch fürs Schmunzeln. Der Platz, der auch Oase genannt wird, wirkt wie eine kleine Welt für sich, in der die Dimensionen und Größenverhältnisse nicht zusammenpassen: Verkehrsschilder und Ampeln im Miniaturformat stehen neben hohen Bäumen, Sitzbänke und Gullydeckel haben Originalgröße.

Ganz bewusst hat sich das 2015 gegründete Künstlerduo „missing icons“, bestehend aus Andrea Knobloch und Ute Vorkoeper, für diesen Ort entschieden. Ein künstlich geschaffenes, umhegtes Gebilde, das von seiner Umgebung völlig unberührt zu existieren scheint. Was sie dort vorfanden, haben sie anhand der Abschottungspolitik der Europäischen Union politisch interpretiert: Aus dem „Gehege“ soll in wenigen Minuten eine surreale Allegorie für Europa werden.

Tacho ist einer der 31 Projekträume, die das Project Space Festival im August im Tagesrhythmus einen Monat lang vorstellt. Erstmals sind in diesem Jahr neben Orten in Berlin jeweils ein überregionaler Raum in Köln und Kassel dabei sowie zwei nomadische Räume, die regelmäßig ihren Aktionsort wechseln.

Die Auswahl sei nicht leicht gefallen, sagt Festivalleiter Heiko Pfreund. In Berlin gebe es laut jüngsten Schätzungen etwa 150 Projekträume. 71 hätten sich davon für das dritte Project Space Festival beworben. Handfeste Kriterien gebe es nicht. Das stünde auch dem experimentellen Wesen der Projekträume entgegen. Während ein Raum für die meisten Menschen ein fester Ort mit vier Wänden sei, könne ein Projekt­raum so ziemlich alles sein, auch ein Verkehrsübungsplatz für Kinder.

Es ist auch ein Kind, das die künstlerische Aktion einleitet. Ein Junge trägt ein fein säuberlich zusammengefaltetes hellblaues Tuch zum Fahnenmast. Über den geteerten Platz hinweg ist ein leises Klingeln zu hören: Die letzten sechzehn Takte von Beethovens 9. Sinfonie, der „Europa-Hymne“. Die schlichte Melodie wurde etwas unbeholfen auf einem Xylofon eingespielt.

Über den geteerten Platz hinweg ist ein leises Klingeln zu hören

Der Klang des Instruments erinnert an den Musikunterricht in der Schule. Obwohl es nur wenige verschiedene Töne seien, habe sie dafür viel geübt, erzählt Andrea Knobloch mit einem Lächeln. Wie auch Europa noch üben müsse. Gemeinsam mit Ute Vorkoeper hisst die freischaffende Künstlerin und Kuratorin die Flagge, auf die das Foto eines aufreißenden Himmels gedruckt wurde. In der Mitte ist in dünnen gelben Linien der Kreis mit den zwölf Sternen der Europaflagge abgebildet. Zumindest erzählt Knobloch das, denn die Flagge will sich nicht entfalten. An diesem Abend fehlt schlicht der Wind, aber eine Windmaschine wäre Theater gewesen, so Knobloch.

Der Berliner Kultursenat unterstützt in diesem Jahr zum ersten Mal das Project Space Festival. Für Projekträume gebe es keine Basisförderung, genauso wenig fallen sie unter die Spielstättenförderung für Betreiber von Auftritts- und Produktionsorten, sagt Chris Benedict, Vorstandsmitglied vom Netzwerk freier Berliner Projekträume und -initiativen. Das mache die Finanzierung schwierig. Verdrängungsprozesse in gentrifizierten Städten kämen hinzu.

Festivalleiter Pfreund sieht das entspannt. Kunst könne man mit viel und wenig Geld realisieren. Man müsse eben mit dem Vorgefundenen arbeiten. Dass das manchmal Überraschungen birgt, beweist das diesjährige Zentrum des Festivals. Die Lage des sogenannten Center of Minimum Distance wurde per Computer aus den Adressen aller Bewerberräume ermittelt und bildet deren geografische Mitte: Direkt hinter dem Theaterhaus Berlin-Mitte fanden die Leiter auf einer offenen Fläche ein großes gelb-rot gestreiftes Zirkuszelt vor.

Die abgewandelte Europaflagge weht noch bis zum 31. August auf dem Verkehrsübungsplatz Tacho. In den kommenden Tagen werden die Projekträume insitu, Bruch & Dallas (je in Mitte) und Display (Schöneberg) eröffnet