Die Gesellschaftskritik
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Tatorte: Wir gewöhnen uns langsam dran Foto: Kimimasa Mayama/dpa

Was uns Japan angeht

WAS SAGT UNS DAS? In Japan hat ein 26-Jähriger 19 Menschen mit Behinderung erstochen. Die Tat scheint weit weg – aber auch wir sollten uns darüber Gedanken machen

Die Frage nach dem Motiv sollte über den Einzel­täter hinausgehen. Die Opfer waren behinderte Bürger, die in ihrem Wohnheim schliefen, als der Täter sie erstach. Ein Einzeltäter, mutmaßen nun viele, psychisch krank, durchgeknallt und skrupellos. Das liegt nahe, erst recht, wenn stimmt, was japanische Medien melden: Dem Täter soll vom betroffenen Heim „Tsukui Yamayuri En“ (Berglilien­garten) gekündigt worden sein und er soll gedroht haben, er wolle 470 Behinderte töten. Zudem habe er in einem Brief an den Parlamentspräsidenten um Gesetzesänderungen gebeten, die die Tötung Schwerbehinderter ermöglichen sollten.

Wie kann es sein, dass in unserer Gesellschaft Menschen heranreifen, die zu so etwas fähig sind? Unsere Gesellschaft? Japan? Selbstverständlich ja! Auch in Japan heißt das Leitmotiv: Leistung. Und, viel wichtiger: Qualifikation. Letzteres bedeutet Status, davon ausgeschlossen zu werden, bedeutet Statusverlust. Dieser kann sich auf materielle oder soziale Weise niederschlagen. Menschen wünschen sich weder das eine noch das andere. Suizid oder Amokläufe sind im Extremfall das Ergebnis solcher Verlustängste.

In den letzten Tagen kann man den Eindruck einer Häufung von Gewalttaten gewinnen. Liegt das daran, dass Amokläufe in Mode sind? Wohl kaum.

Vielmehr drängen die Abgehängten in den westlichen Industriestaaten gerade an die Oberfläche. Sie sind abgehängt von einer Gesellschaft der maximalen Qualifikation, des immerwährenden Konsums und der weltweiten Mobilität. Einzelne fühlen sich da wieder und wieder abgehängt.

Dieses Ausgestoßensein verursacht Wut. Diese Wut lässt sich dann leichter gegen diejenigen richten, die vermeintlich noch schwächer sind: geflüchtete Menschen etwa – oder Behinderte. Über sie lässt sich am besten urteilen, Macht ausüben. Die Forderung des Täters entsprechende Gesetze zu fordern, die eine Tötung von behinderten Menschen vorsehen, ist krank. Aber sie entspringt einer Wissens- und Leistungsgesellschaft, in der die Schwächeren nicht gehört werden wollen.

Nun ist die Öffentlichkeit schockiert ob der schrecklichen Tat. Wer aber hat sich davor ernsthaft mit den Opfern – oder dem Täter – auseinandergesetzt? David Joram