Das Leitsystem, das unbekannte Wesen

TASTEN Der Bremer Hauptbahnhof verfügt über ein vorbildliches Blindenleitsystem. Doch gerade, weil es so gut gemacht ist, wird sein praktischer Wert durch Ignoranz geschmälert

Die aus „Braille Blocks“ bestehenden Blindenleitsysteme wurden 1965 in Japan entwickelt.

In Deutschland werden diese sogenannten „Bodenindikatoren“ seit Mitte der 80er-Jahre verlegt.

DIN 32984 definiert bundesweit das Blindenleitsystem, bestehend aus Leitstreifen, die Führung und Orientierung zu wichtigen Zielen bieten, sowie aus Aufmerksamkeitsfeldern, die unter anderem auf Richtungswechsel, Hindernisse oder Einstiege hinweisen.

Aufmerksamkeitsfelder sind durch Noppenstruktur zu ertasten, Leitstreifen durch Rillenstruktur.

Farblich unterscheiden sich die Systeme vom Umgebungspflaster, damit sehbehinderte Menschen sich optisch an ihnen orientieren können.

von Simone Schnase

„Bremen baut Barrieren ab“: So hieß ein von der Sozialbehörde in Auftrag gegebener Bericht, der vor elf Jahren die Schwachstellen der Stadt in Sachen Barrierefreiheit benannte. Vor allem Knotenpunkte des öffentlichen Nahverkehrs wie der Bereich Domsheide und der Bahnhofsvorplatz waren danach stark verbesserungswürdig – und wurden im Laufe der folgenden Jahre in Angriff genommen.

Vorangegangen war der Erlass des Gesetzes „zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und zur Änderung anderer Gesetze“ durch den Bremer Senat. Paragraf acht dieses Gesetzes sieht vor, dass bei allen Um- und Erweiterungsbauten im öffentlichen Hochbau und an sonstigen baulichen Anlagen sowie an öffentlichen Wegen, Plätzen und Straßen und öffentlich zugänglichen Verkehrsanlagen „nach den allgemein anerkannten Regeln der Technik verfahren werden soll, um weitestgehend eine Barrierefreiheit zu erreichen.“

Dazu gehören Maßnahmen wie die Verbreiterung und Absenkung von Bordsteinkanten oder die Installation von Rampen und Fahrstühlen – und ein Blindenleitsystem. Nicht dass es das nicht auch schon vorher in Bremen und anderswo gegeben hätte: Seit Mitte der 80er-Jahre wird die in Japan entwickelte Idee des Leitsystems mittels strukturierter Bodenplatten, die per Blindenstock ertastet werden können, in Deutschland verbaut. Aber es blieb leider allzu oft bei der Erstverbauung.

Dabei nutzen sich die Rillen oder Noppen im Leitsystem mit der Zeit ab und lassen sich per Blindenstock immer schwerer ertasten. Und: Das in die Jahre gekommene System hat viele Schwachstellen. Auch das am Bremer Hauptbahnhof hat in seiner alten Version blinde und sehbehinderte Menschen nur unzureichend geleitet, geschweige denn vor Stürzen geschützt.

0,5

Prozent der Wohnungen in der Wesermarsch sind behindertengerecht – die Gegend an der Weser zwischen Bremen und Bremerhaven ist damit deutschlandweit abgeschlagen: Nur in Hoyerswerda sieht es mit einem Anteil von 0,4 Prozent an barrierefreien Wohnungen schlechter aus

So fehlten rechts und links neben den Blindenleitstreifen sogenannte „Begleitstreifen“, also glatte Pflastersteine, die notwendig sind, um die strukturierten Steine überhaupt von der Kopfsteinpflaster-Umgebung unterscheiden zu können. Die Mauer, die die Rasenfläche am direkt angrenzenden Überseemuseum umgibt und an ihren langen Seiten Höhenunterschiede aufweist, führte Blinde in die Irre: Die Kante ihrer nahezu ebenerdigen Seite signalisierte: Hier ist ein Gehweg. Wollte ein blinder Mensch diesen vermeintlichen Gehweg überqueren, fiel er nach zwei Schritten die Mauer hinunter.

Diese Defizite wurden vor vier Jahren beseitigt. Durch eine spezielle „Klopfkante“ wird Blinden nun signalisiert, dass es hier nicht auf einen Bürgersteig geht. Begleitstreifen wurden verbaut. Von der Bahnhofstraße über den Vorplatz durch die Bahnhofshalle bis hin zu den Gleisen führt das System, im Außenbereich ist es an Taxistände und Haltestellen angeschlossen.

Die neuen Begleitstreifen haben überdies den Nebeneffekt, auch RollstuhlfahrerInnen und Menschen mit Rollatoren oder Kinderwagen den Weg zu erleichtern: Durch die glatte Beschaffenheit der Steine können auch sie nun leichter die Straßenbahn-Gleise überqueren.

18,3

Prozent der Wohnungen sind dagegen beim deutschen Spitzenreiter Freiburg im Breisgau barrierefrei, es folgen auf den Plätzen zwei und drei der Kreis Fulda mit 16,9 und Karlsruhe mit 16,7 Prozent

Allerdings wird das System von sehenden Menschen aus Unwissenheit oder Ignoranz oft zweckentfremdet. Die meist geriffelten weißen Streifen an Bahn- und Tramgleisen, an Bushaltestellen oder an Ampeln und Zebrastreifen werden mit Halte- oder Abstandsmarkierungen für jedermann verwechselt – auf die man gern auch mal seine Koffer abstellen darf.

Oder Menschen verwechseln das Leitsystem, das stets farblich abgesetzt ist, damit Sehbehinderte es wahrnehmen können, mit Parkstreifen: Die vielen Fahrräder, die nicht nur am Bremer Bahnhofsplatz oft in Reih und Glied auf den Streifen abgestellt sind, lassen keine andere Erklärung zu.

Es ist wahrscheinlich zu unauffällig, dieses Blindenleitsystem, es fügt sich zu gut ein in seine Umgebung, niemand stolpert darüber – es ist barrierefrei in jeder Hinsicht. Das ist einerseits sehr gut für Menschen mit Behinderungen, die sich ja ebenfalls unauffällig und selbständig und ohne fremde Hilfe in ihre Umgebung einfügen wollen – es wäre also ein Rückschritt, die Leitstreifen durch beispielsweise auffällige Beschilderungen zu markieren. Andererseits nützt das schönste System nichts, wenn es nur eingeschränkt benutzbar ist: ein Dilemma.