Die unglaubliche Fülle des Lochs

AUSSTELLUNG Das Künstlerhaus am Deich widmet sich 85 Jahre nach Kurt Tucholsky ganz der vermutlich einzigen Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt

Knapp und prägnant ist der Titel der neuen Ausstellung des Künstlerhauses Bremen: „Das Loch“. Statt zu erwartender Leere erfährt man eine unglaubliche Fülle. Nicht nur, dass ein Loch keinesfalls mit einem Nichts zu verwechseln wäre.

Aber auch die Ausstellung selbst hat mit der Leere, die man mit einem Loch assoziiert, nichts zu tun. Ganz im Gegenteil ist die Galerie angefüllt mit Bildern, Plastiken, Screens und Vitrinen, mit allerlei Gestalt, Tiefe und Rand.

Eigentlich ist diese Show, bei der Arbeiten von immerhin knapp dreißig internationalen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt werden, sehr viel mehr, als eine Gruppenausstellung, sagen wir, zum Thema Loch. Denn es sind auch Dinge zu sehen, die gar keine wirklichen Kunstwerke sind, sondern historische Gebrauchsgegenstände – mit einer gewissen Verbindung zum Thema Loch, versteht sich.

Die ausgestellten Gebrauchsgegenstände – das sind zum Beispiel Lochstreifen oder Lochkarten, Dinge, die man heute nur noch selten nutzt. Das heißt, das Prinzip dem sie folgen, ist für uns heute schon sehr präsent: das Lochkartensystem ist ein binäres Informationssystem, ähnlichen den digitalen Einsen und Nullen. Löcher sind im Falle der Streifen und Karten Träger von Informationen. Man verwendete sie etwa für Leierkästen oder anderen Musikapparaten. Ein anderes Feld, auf dem Lochbänder Verwendung fanden, war das Weben von Stoffmustern.

In der Ausstellung ist neben seltsamen Originalen auch eine Arbeit der Münchner Künstlerin und Musikerin Michaela Melián zu sehen: „The House of Jaquard“. Vor vier Jahren hatte sie die Arbeit im Kunstverein Springhorn gezeigt, einem Ort, der früher der Textilproduktion gewidmet war. Melián hat in Prints alter Modefotografien aus Springhorn mit einer Nähmaschine Fadenzeichnungen hinein gesetzt.

Der Film- und Fotokünstler Gordon Matta-Clark hat selbst Löcher produziert. 1975 hat der für seine in der Mitte zersägten Häuser berühmt gewordene Künstler den Videofilm „Conical Intersect“ produziert. Zu sehen ist ein Haus nahe des damals neuen Centre Pompidou in Paris, das von Arbeitern durchlöchert wird. Matta-Clark formuliert in seiner Arbeit eine frühe Kritik an der Aufwertung von Stadtvierteln. Durch die Löcher wurde Matta-Clarks Haus transparent. Durch seine Löcher wurde das im Bau befindliche Centre Pompidou sichtbar.

Das Loch als etwas Witziges, Absurdes, Surreales – das sieht man in den Fotos des Hamburger Künstlers Peter Piller. Von ihm stammt ein inzwischen mehrbändiges thematisch geordnetes Bildarchiv. Aus Zeitschriften hat er Aufnahmen von Menschengruppen ausgeschnitten und gesammelt, auf denen Menschengruppen auf Straßen um geöffnete Kanalisationen stehen und in die Öffnungen blicken. Isoliert von ihrem nachrichtlichen Kontext und in der Menge werden die Aufstellungen seltsam.

Ebenso seltsam wirken die Künstlerbücher des 1998 verstorbenen Künstlerbücher des Fluxus-Vertreters Dieter Roth. Dieser hatte eine 1976 aus losen Seiten von Disney-Taschenbüchern neue gebunden und in die Seiten kreisrunde Löcher geschnitten. Diese konterkarieren andere runde Elemente wie Sprechblasen oder Köpfe.

Das macht die Bücher zwar unbrauchbar, aber dafür sind die bunten und löchrigen Seiten aber eigensinnig schön. Und sie sind Kunst.

Radek Krolczyk

Künstlerhaus am Deich, bis 6. November

Der Autor ist Betreiber der Galerie K' (www.k-strich.de).