Statt zu Hause zu sitzen – lieber kämpfen

FUSSTECHNIKER*INNENDie Geschwister Rabia und Tahir Güleç aus Franken fighten in einer der attraktivsten Disziplinen der Spiele von Rio: im Taekwondo. Aber die authentische Show dieses Sports ist nicht erlaubt

Rabia Güleç bei der Taekwondo-Qualifikation: Sport als Mittel, nicht Hausfrau werden zu müssen Foto: Anadolu Agency/getty

Aus Rio Markus Völker

Das Gespräch startet holprig. Carlos Esteves, Trainer von Rabia und Tahir Güleç, gibt mir eine Anweisung: „Also bitte keine Fragen zum olympischen Dorf, zu Doping und auch nicht über Politik, so was möchten wir draußen halten.“ Immerhin, der Termin mit den Kämpfern aus Franken kommt zustande.

Das Geschwisterpaar, das heute in den olympischen Taek­wondo-Wettkampf einsteigt, hat gerade ein Training auf dem Gelände des Olympiaparks absolviert. Tahir ist offensichtlich einer, für den der Begriff des Smombies erfunden wurde. Sein Blick klebt nach dem Training an seinem Smartphone. Auch als ich schon die erste Frage gestellt habe, ist Tahir noch mit seinem mobilen Gerät beschäftigt, die Schwester muss also antworten: „Mir gefällt Olympia, für mich ist es total okay.“ Sie hat, wie ihr Bruder, keine Vergleichsmöglichkeiten, denn beide sind zum ersten Mal bei diesem Großevent der Bewegungsbegabten dabei.

Beide waren allerdings schon bei den Jugendspielen, den Olympic Youth Games. 2010 in Singapur endete der erste ju­gend­olympische Ausflug für Ra­bia allerdings leicht traumatisch. Weil sie dort nachts einmal losgezogen war und ihr Onkel, Taekwondo-Trainer Özer Güleç, sie danach wohl geohrfeigt hat, mussten beide vorzeitig abreisen. Der Coach wurde daraufhin für kurze Zeit suspendiert.

Rabia und Tahir brauchen aber, wollen sie mehr über Olympia wissen, nur ihre ältere Schwester Sümeyye fragen. Sie hat als Taekwondista in Peking und London gekämpft. Nicht so erfolgreich. Aber das wollen die beiden jetzt ändern. Es geht auch um die Familienehre.

Der Sport: Taekwondo ist seit 2000 olympisch. Der schnelle, dynamische Kampfsport hat nicht viel mit Kung-Fu-Filmen gemein. Fußtechniken dominieren stark.

Die deutsche Ausbeute: Silber 2000 durch Faissal Ebnoutalib, 2012 Bronze durch Helena Fromm. Der Nürnberger Kämpfer Tahir Güleç sagt: „Ich fliege nach Rio, um Gold zu holen.“

Die Athlet*innen: 128 Taek-wondoin aus 63 Ländern treten in jeweils vier Gewichtsklassen an. Favorisiert: alle Kämpfer*innen aus Südkorea und China.

„Jeder Kampf wird für mich wie ein Finalkampf sein. Ich hoffe, im Finale haue ich dann meinen Gegner um“, sagt Tahir. „Ich hoffe, ich bin der, der mit der Goldmedaille nach Hause fliegt.“ Rabia würde gern eine Bronzemedaille gewinnen. Das wäre exakt der Medaillensatz, mit dem die Geschwister vor drei Jahren von der Weltmeisterschaft in Mexiko zurückkamen.

Das war eine gute Geschichte, die aber nur von ein paar Medien im Großraum Franken erzählt wurde. „Wenn mal’ne olympische Goldmedaille rausspringen würde, könnten wir uns mit der Sportart ganz gut präsentieren“, sagt Rabia. Sie kämpft in Rio in der Klasse bis 67 Kilogramm, im Idealfall wären es vier Kämpfe bis zum Olympiasieg.

So ein kompliziertes Geschwisterverhältnis wie die Dis­kus werfenden Brüder Harting haben Rabia und Tahir Güleç nicht. Ihnen geht die Familie über alles, weswegen Sümeyye mit nach Rio gereist ist und der jüngere Bruder Malik auch. „Hier als Geschwisterpaar zu sein, das ist sehr wichtig, weil ich immer die Unterstützung von meinem Bruder habe. Wenn ich Hilfe brauche, ist er immer da.“ Und Fragen, bei denen die Schwester stockt, greift er auch gern auf und beantwortet sie. „Wir motivieren uns gegenseitig und können alles zusammenmachen“, sagt der Bruder, „da brauchen wir niemanden anders. Wir machen eigentlich alles zusammen. Die Familie macht uns stark.“

Es war der Onkel, Özer ­Güleç, der Nürnberg zur deutschen Taekwondo-Hochburg gemacht hat. 1992 hat er im Süden der Stadt einen Taekwondo-Tempel eröffnet, es ist ein blauer Bau in der Findelwiesenstraße. Hier lebt die Idee des Multikulti in seiner positivsten Form. Der Verein hat auf seiner Webseite alle Nationen aufgelistet, aus denen die Kämpfer ursprünglich kommen, es sind 39 von A wie Ägypten über P wie Palästina bis V wie Vietnam.

„Wir glauben“, so lautet die Vereinsmaxime, „dass jeder Mensch gleich viel wert ist, ungeachtet seiner Herkunft, seiner Nationalität, seiner Religion, ­seines Glaubens, seiner Hautfarbe, seines Geschlecht.“ Ein „richtiger Mischmasch“ sei das, sagt Tahir, „aber jeder versteht sich“.

Tagestipp von Sören Haberland:Boxen, Halbweltergewicht der Männer, Halbfinale, 19.45 Uhr: Artem Harutyunyan (Deutschland) gegen Lorenzo Sotomayor Collazo (Aserbaidschan). Ein Aserbaidschaner mit kubanischen Wurzeln gegen einen Deutschen armenischer Herkunft. Oder: der Bergkarabach-Konflikt im Boxring. Eine Chance für eine neue Pingpong-Diplomatie.

Die meisten Athleten haben einen Extraschlüssel zu Özers Kampfsportreich. Sie können kommen, wann sie wollen und auf eigene Faust trainieren. Man vermittelt in der Kampfbude „die fränkische Kultur“, wie der Chef sagt, und es geht neben dem Sport auch um Bildung: „Wir brauchen hier keine Dummköpfe.“ Wer den besten Notendurchschnitt hat, der bekommt von Özer Güleç am Ende des Schuljahrs einen Sonderpreis.

Dass im Verein muslimische Frauen trainieren, ist völlig normal. „Wir haben hier ganz viele Muslime im Verein, inzwischen sind es mehr Mädchen und junge Frauen als Jungs und Männer“, sagt Sümeyye Güleç, die jetzt Manz heißt: „Pro­ble­me sieht da keiner.“ Rabia hätte freilich nicht mit Taek­wondo anfangen sollen, wäre es nach dem Willen des Vaters gegangen.

Niyazi Güleç, der als Schichtarbeiter im Nürnberger Druckgusswerk sein Geld verdient, hätte es lieber gesehen, wenn die jüngere Tochter die Finger vom Kampfsport gelassen hätte: „Mein Vater wollte, dass ich zu Hause bleibe und Hausfrau werde, aber mein Onkel hat mich nicht mehr im Verein weggelassen“, sagt sie, „anstatt zu Hause zu sitzen, habe ich gedacht, ich mache mich mal nützlich. Und dann bin ich durchgestartet. Wenn man an sich glaubt, schafft man eben vieles.“

„Jeder Kampf wird für mich wie ein Finalkampf sein. Ich hoffe, im ­Finale haue ich dann meinen Gegner um“

Tahir Güleç, Taekwondo-Kämpfer

Ihre Eltern sind vor über 40 Jahren nach Deutschland gekommen. Die Bindung an die Türkei ist noch immer stark. „Ich bin deutscher Weltmeister, aber Türke halt“, hat Tahir nach seinem Titelgewinn im fränkischen Fernsehen gesagt. Was ist damit gemeint? „Ich bin Türke, meine Eltern sind Türken. Ich bin in Deutschland geboren und mit der deutschen Kultur aufgewachsen. Ich habe immer für Deutschland gekämpft. Ich würde nie als Kämpfer zur Türkei wechseln. Aber ich bin halt Türke, das ist nun mal so.“ Sümeyye, die ältere Schwester, sieht das so: „Uns jungen Leuten geht es doch allen gleich, hier in Deutschland sind wir die Türken, in der Türkei sind wir es nicht mehr, ich bin ein deutsch-türkischer Mix.“

Taekwondo, seit 16 Jahren olympisch, hat sich verändert. „Früher konntest du viel freier kämpfen“, sagt Tahir, „den Zuschauern wurde mehr geboten, und es hat auch den Kämpfern mehr Spaß gemacht. Aber jetzt musst du deinen vorderen Fuß ständig benutzen, sonst hast du keine Chance mehr.“ Der Nürnberger bedauert das. „Fast alles läuft über den vorderen Fuß. Früher hast du draufgeknallt, da gab es mehr Power, mehr Action, mehr Drehtechniken, heute ist es ruhiger, eindimensionaler.“

Das olympische Taekwondo hat nicht mehr viel zu tun mit den Kampfszenen aus asiatischen Kung-Fu-Filmen. Spektakulär ist es trotzdem, denn in diesem Sport kann es Knock-outs wie im Boxen geben. Ja, es habe ihn leider auch schon erwischt, sagt Tahir Güleç und widmet sich dann wieder seinem Smartphone. Er muss da was checken.