„Aber! Ich liege neben den Versuchen/ Überlebenslang hinaus/ zwischen den Händen und Beinen/ meines Tages ohne Sein“: So sieht es Timo Dege, mit seinen Sinnsprüchen gern auch in der Hasenheide unterwegs Foto: Ksenia Les

Zettelweise Weis­hei­ten

Groß­stadt­poe­sie Apho­ris­men für die Clubgänger bei der frühmorgendlichen U-Bahn-Fahrt oder Spon­tan­ge­dich­te in den Parks:Seit fast zwan­zig Jah­ren ist Timo Dege in Ber­lin un­ter­wegs und bie­tet portionsweise seine „ori­gi­nel­le All­tags­un­ter­hal­tung“ feil

von Jens Uthoff

Bevor das Interview starten kann, geht Timo Dege in der Hasenheide erst noch mal seiner Berufung nach. Das heißt, nein, eigentlich ist er die Berufung selbst, wie er später sagen wird – aber alles der Reihe nach.

Dege, ein hagerer, großer Mann mit leuchtend blondem, fransigen Haar und borstigen Bartstoppeln, streunt Richtung Balustrade am Friedrich-Ludwig-Jahn-Denkmal und spricht einen Spaziergänger an.

Dies gehört zu seinem Job, weit mehr als hundertmal täglich macht er dies. In der U-Bahn, auf dem Tempelhofer Feld, auf dem Trottoir, in Cafés. Oft auch hier, in dem Neuköllner Park. Der 43-Jährige, der heute in ein rot-gräulich gestreiftes Jackett und eine sauerkirschrote Cordhose gehüllt ist, fragt die Leute jedes Mal in etwa das Gleiche: „Möchten Sie originelle Alltagsunterhaltung hören?“

Viele Berliner dürften diesen Satz aus seinem Munde schon gehört haben. Seit fast zwanzig Jahren handelt Dege bereits mit dieser „originellen Alltagsunterhaltung“, von der man zunächst keinen Schimmer hat, was genau das sein könnte. Hat man ihm einmal eine Portion davon abgekauft, weiß man, dass es sich um eine Mischung aus philosophischen Aphorismen und Gedichten handelt, die er vorträgt und die man, auf einen kleinen Zettel geschrieben, mitnehmen kann.

Manchmal trägt er auch Spontangedichte vor und schreibt sie auf. Aber eher selten, wie er jetzt sagt, als er auf die Stufen unter dem Turnvater Jahn Platz nimmt – das meiste sei aus seinem Repertoire.

Wenn man ihm selbst Fragen stellt, zum Beispiel danach, wie er seine Arbeit bezeichnen würde, wird man nicht immer klüger. „Ich schöpfe mein maximales Potenzial als sinnvolles, daseinsgründendes Wesen hier auf dieser Erde aus und sorge dafür, dass originelle Studienfaszination unter die Menschen kommt“, sagt er und schaut mit weit aufgesperrten blauen Augen vor sich hin. Seine Sätze irritieren. Klingen nach Zen-Seminar. Manchmal erahnt man nur, was er meint.

In jedem Fall ein Unikat

Wer ist dieser Freak? Ein Hängengebliebener? Ein Verkannter? In jedem Fall ist er ein Unikat, und dieses Unikat schlägt jetzt die Beine übereinander, knickt den Filter einer Zigarette ab und schiebt sich die nun filterlose in den Mund. Damit ihm keine Strähnen ins Gesicht fallen, hat er sich eine Kleinmädchenspange ins Haar geklemmt. Wenn er nun tief inhaliert und etwas weniger rätselhaft seine Lebensgeschichte erzählt, bekommt man zumindest eine Ahnung davon, wie der schräge Typ mit dem Aphorismenbauchladen wurde, was er ist.

Dege wächst in der pfälzischen Provinz bei Kaiserslautern auf. Nachdem er sein Abi­tur gemacht hat, hat er nicht wirklich eine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen soll. Er sagt, er habe sich damals wie heute oft als „andersartig“ erlebt. „Ich war weder philosophisch gut gebildet noch für die Gesellschaft ausgestattet. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Nur ein Logbuch hat er zu dieser Zeit immer bei sich. Denn als er 17 ist, da drückt seine Schwester ihm ein unbeschriebenes Buch in die Hand. Er solle seine Gedanken hineinschreiben.

1994 geht Dege nach Berlin, das Buch im Gepäck. Er studiert zunächst Erziehungswissenschaften und Soziologie an der TU. Dort schmeißt man ihn von der Uni, nachdem er sich in einem Soziologie-Seminar lautstark mit einer Frau angelegt hat. „Wir sind in eine härtere Diskussion gekommen. Wahrscheinlich habe ich mich über ihre Spießigkeit aufgeregt. Am nächsten Tag sagte man mir im Direktorat, ich hätte mich fehlverhalten.“

Dege setzt sein Studium an der FU fort. Verliert sich dort aber in Cafés. Er nimmt halluzinogene Drogen. Und er schreibt. „Zuerst habe ich vor allem die unterhaltsamen Sachen aufgeschrieben, die schönen LSD-Trips und so. Übrigens: Falls du das mit den Drogen schreibst, erwähne doch, dass ich ein Bett dazu empfehle, also einen Ort, an den man sich zurückziehen kann.“

Mitte der Neunziger reist Dege nach Indien, ist dort in Slums unterwegs. Eine „Untergangsstudie“ nennt er das. Wenig später, 1998, schreibt er den Text fertig, den er heute seine Biografie nennt.

Aus diesem Werk also stammen die Sinnsprüche, die er als „Originelle Alltagsunterhaltung“ gegen eine kleine Spende unters Volk bringt. Der erste Satz lautet so: „Aber! Ich liege neben den Versuchen/ Überlebenslang hinaus/ zwischen den Händen und Beinen/ meines Tages ohne Sein.“ Mit immer anderer Interpunktion ist dies sein meistverkaufter Text. Die Fertigstellung der Biografie klingt in seinen Worten so: „Ich habe es an einem Tag und in einer Nacht erlebt, dass ein alles bedeutendes Unterhaltungswerk poetisch anwesend war.“

Kein Wunder, dass so ein Typ aneckt. Dass er für einen Spinner gehalten wird. Von 95 Prozent der potenziellen Kundschaft werde er ignoriert. Andere fragten: Was soll ich mit dem Scheiß? „Es gibt nur einen Ort in Berlin, an dem die Resonanz deutlich besser ist: Das ist an den kleinen Gärten auf dem Tempelhofer Feld“, erklärt er. Oft werde er aber auch angeschnauzt.

So wie jetzt. Ein junger Mann mit dunklem Fusselbart geht schimpfend auf den Interviewer und den Interviewten zu. „Dieser Mann ist der größte Betrüger, den es gibt. Der verkauft Zettel. Und will die als Weisheit rausgeben. Glauben Sie ihm nichts!“

Nachdem der junge Mann weiterzieht, schimpft Dege vor sich hin. „Dieses Hanswurst­arschloch.“ Das Gesicht ist jetzt angespannt, die Adern treten an den Schläfen hervor. Er schaffe es nicht immer, ruhig darauf zu reagieren.

„Dass es hier ein Sozialsystem gibt, das ist schon geil“

Timo Dege

Einmal, so sagt er, sei er gewalttätig geworden. Vor knapp zehn Jahren sei das gewesen. Eine ältere Frau in der U-Bahn habe zu ihm gesagt: „Was die sich erlauben, diese Straßenpenner, mir so einen Mist anzudrehen.“ Es habe eine verbale Auseinandersetzung gegeben, an deren Ende Dege der Frau Zähne ausgeschlagen habe. Es habe ihn einfach mitgenommen, es sei die „zehntausendste“ Beleidigung dieser Art gewesen. „Es hat auch einen Prozess gegeben, fünf Jahre geschlossene Psychiatrie hat der Staatsanwalt gefordert.“ Er sei freigesprochen worden.

Mit sich im Reinen

Anfang der nuller Jahre war er schon mal in der Psychiatrie. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle sich untersuchen lassen – daraufhin hätten ihm die Ärzte gesagt, entweder gehe er freiwillig oder sie sorgten dafür, dass er gehe. „Endogene Schizophrenie soll ich gehabt haben“, sagt Dege. 2003 hat man ihm eine Betreuerin zur Seite gestellt, die sich bis heute regelmäßig mit ihm trifft. Lange hat er damit gehadert. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt. Er sei mit sich und dem, was er tue, im Reinen.

Derzeit, im Sommer, stehe er zwischen vier und sechs Uhr morgens auf, hüpfe aus dem Bett in seiner Wohnung im Schillerkiez, springe in die U8 und stelle seine Frage. „Um die Uhrzeit fahren die ganzen Clubber mit der Bahn, bei denen gehe ich mal davon aus, dass sie Unterhaltung schätzen. Vier, fünf Stunden später, wenn die arbeitende Bevölkerung unterwegs ist, finde ich fast niemanden, der mir etwas abkauft.“ Er arbeite immer bis etwa 8 Uhr abends und nehme um die 40 Euro am Tag ein.

Berlin hält er für ein gutes Pflaster für Leute wie ihn. „Ich bin fast ein bisschen stolz darauf, wenn die Leute sagen, sie empfänden Berlin als eine angenehme, menschenfreundliche Stadt. Auch wenn ich nicht immer das Gefühl habe, dass sie es tatsächlich ist. Aber im Vergleich zu anderen Städten kann das schon hinkommen.“ Woanders will er keinesfalls leben: „Paris ist viel zu groß, London viel zu teuer, New York schlimm und lieblos“, zählt er auf. „Und dass es in Deutschland ein Sozialsystem gibt, das ist schon geil.“

Fragt man ihn, ob das nun seine Berufung ist, die Arbeit, die er lebenslang ausüben wolle, schaut er etwas verschmitzt drein, als wolle er einen testen, und antwortet kryptisch: „Ich bin die Berufung selbst. Ich bin die Würde des Menschen in Arbeit, Werk und Programmatik.“

Sagt es, knickt einen weiteren Filter ab, steckt sich die Zigarette in den Mund. Und macht sich auf zu neuer Kundschaft.