Berlin schlittert in den Winter

KÄLTE Schnee und Eis bleiben uns vorerst erhalten. Unterwegs zu sein wird zum Abenteuer – fünf Erfahrungsberichte

■ Vorhersage: Der Rest der Woche bringt noch mehr kaltes Winterwetter mit Schnee, Glätte und zweistelligen Minusgraden.

■ Verkehr: Bei der S-Bahn haben Schnee und Eis die Ausfallquote bisher nicht nennenswert erhöht: Grund für Zugausfälle und Verspätungen auf der Ringbahn am Montag war der defekte Motor eines im Westhafen liegen gebliebenen Zuges. Wegen einer Weichenstörung konnte die S 7 zwischen Westkreuz und Potsdam nur alle 20 Minuten fahren.

■ Räumen: Für freie Gehwege sind die Eigentümer anliegender Grundstücke verantwortlich. Sie müssen Schnee räumen, streuen und festgefrorenes Eis beseitigen. Ansonsten droht ihnen ein Bußgeld von bis zu 10.000 Euro. (sepu)

Rodeln im Dunkeln

Der Wind pfeift durch den Görlitzer Park und wirbelt uns die Flocken ins Gesicht. Es ist längst dunkel, trotzdem sieht man genug, weil der Schnee das orange Licht der Stadt reflektiert. Mit uns haben sich ein Dutzend andere Schneewütige herausgewagt zur abendlichen Schlittenparty. Los, ab geht’s! Die Kufen gleiten über eisige Stellen, der Schlitten wird immer schneller und schneller, hoppelt und gerät in Schieflage. Hilfe, wir kippen! Adrenalin. Wir kriegen gerade noch mal die Kurve, der Schlitten läuft langsam aus. Kaum unten, will die Tochter wieder den Abhang hinauf. Das Gesicht ist wie aus Eis – egal. Glücklich stapfen wir durch den Neuschnee wieder nach oben. So fühlt sich Winter richtig an. ALL

Endlose Weite in Tempelhof

Wenn es schneit, ist das Tempelhofer Feld noch größer als sonst. Weil man nicht mal mehr am fernen Horizont Häuser sieht. Der Blick endet im weißen Schneegestöber. Egal in welche Richtung man schaut – leere weiße Weite. Auch die Landebahnen sind verschwunden. Keine Ahnung, wo Weg und wo Wiese ist, das Knirschen der Schritte über die Schneedecke hört sich überall gleich an. Ein Mountainbiker quält sich bei jedem Tritt. Sein Vorderrad schlägt im Schnee immer wieder aus. Ein Snowboardfahrer fräst durch die Landschaft, er lässt sich von einem Drachen ziehen. Der Wind bläst ungebremst und eiskalt. Ich ziehe meine Wollmütze tief herunter. Heute wird es nur eine Viertelrunde über das Feld. HEI

Stillstand im Bus

Wenn Radler und Autofahrer bei Schnee in Busse drängen, droht Chaos. Wie im Berufsverkehr im Bus M 29, als der Bus wegen Überfüllung nicht weiterfährt. Der Grund: Die Türen lassen sich nicht schließen, weil Fahrgäste in der Lichtschranke stehen. Was für eine Fehlkonstruktion! „Die Tür frei machen“, bittet die Busfahrerin und stellt den Motor ab. Nach fünf Minuten gehen zwei Passagiere zu Fuß. Der Bus rollt weiter. An der nächsten Haltestelle wiederholt sich das Spielchen: reindrängeln, debattieren, rausschleichen. Bei jedem Halt das gleiche Theater – für eine Zehnminutentour braucht der Bus schließlich eine halbe Stunde. ROT

Rückfall in alte Zeiten

Irgendetwas passiert mit uns im Dunkel der Nacht, als wir mit dem Auto zum Konzert im Funkhaus Berlin fahren. Hinaus aus der beleuchteten Innenstadt auf das verschneite, abgeschiedene Gelände in der Nalepastraße. Wir nehmen dort gerade eine Kurve, als Philipp die Handbremse zieht und die Hinterräder einen Ausbruchsversuch starten. Das Auto schlittert, und ich rufe: „Du Landei!“ Denn es ist, als wären wir plötzlich wieder auf einem niedersächsischen Acker unterwegs. Wer dort im Flachland aufwuchs wie wir, der beschäftigte sich gerade in der besinnlichen Adventszeit nicht mit Klangkunst, sondern eher mit Autostunts und dem Umfahren von Jägerhochsitzen. Wir dachten, wir seien längst darüber hinweg. Aber falsch liegen liegt uns. XLA

Nichts als Verachtung

Ja, ich sehe den Schnee, als ich zur taz zur Arbeit fahre – mit dem Fahrrad. Wie immer. Es dauert ein paar Minuten länger, aber passt schon. Als am Nachmittag die Flocken dichter werden und ich wieder rausmuss zu einem Termin, gerate ich schon mehr ins Grübeln. Egal! Ich strampele mich durch die knöcheltief verschneite Oranienstraße, in den Spuren der vor mir schleichenden Autos schlitternd, mal mit dem rechten, mal mit dem linken Fuß abstützend, zwischendrin den Schnee von der Brille wischend. Was ich als heroisches Trotzen der Bequemlichkeit begreife, erntet auf den Gehwegen neben mir nur Kopfschütteln. „Geht’s noch, Fahrradfahren bei dem Wetter?“, schreit mir einer hinterher. „Selbstmörder!“, blafft kurz darauf ein anderer. Ich staune: statt des erwarteten Respekts nichts als Verachtung. Als ich abends nach Redaktionsschluss nach Hause aufbreche, nehme ich die U-Bahn. KO