Fulminantes Plädoyer für Europa

Feier zum 3. Oktober Demokratie ist eben mehr als nur Mehrheit, auch wenn sie sich als „ein“ Volk kostümiert. Der Festvortrag von Daniel Cohn-Bendit in der Frankfurter Paulskirche

Was bedeuten und wozu taugen „Nationalfeiertage“? Der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann und sein Stab gaben darauf gleich zwei bündige Antworten bei der Feier zum 3. Oktober in der Frankfurter Paulskirche, die als „Geburtsort der Demokratie und der freien Rede in Deutschland“ (Feldmann) gilt. Das Protokoll der Veranstaltung setzte die Europahymne an den Beginn der Feier und wählte Daniel Cohn-Bendit als Festredner. Und der enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht und hielt ein fulminantes Plädoyer für Europa, das zu schmähen und kleinzureden fast schon Mode geworden ist in Teilen der tonangebenden nationalen Medien, für die das Elend der Flüchtlinge bestenfalls ein Grund ist, über „sichere Grenzen“ zu räsonieren und „Dublin“ vor- und rückwärts zu buchstabieren. Was die Flüchtlinge betrifft, erinnerte Cohn-Bendit passend an eine große moralische Katastrophe. Die Konferenz von Evian im Juli 1938, wo sich Vertreter von 32 Staaten und über 30 Hilfsorganisationen nicht über wirksame Maßnahmen zur Rettung der vom Tode bedrohten europäischen Juden einigen konnten.

Cohn-Bendit stellte sein politisches Handeln und Denken – frei nach Antonio Gramsci – unter den Imperativ, den Pessimismus des Verstands mit dem Optimismus des Willens zu verbinden. Der 9. November ist geschichtsträchtig: An diesem Tag wurde 1848 der Demokrat und Schriftsteller Robert Blum 1848 in Wien erschossen, 1923 putschten Hitler und Ludendorff in München, 1938 zündeten Goebbels’ SA-Horden unter dem Beifall des Publikums landesweit Synagogen an und plünderten jüdische Geschäfte, 1969 verübten verirrte Linksradikale einen Anschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus in Berlin. 1974 verhungerte der Terrorist Holger Meins in staatlicher Obhut in einer deutschen Haftanstalt. Der 9. November 1989, an dem Günter Schabowski Reisefreiheit für die Bürger der DDR verkündete – für „sofort und unverzüglich“ – und die Mauer fiel, war zwar, so der Festredner, „für die Deutschen ein historischer Moment der Befreiung von der Diktatur“ unter dem kruden Namen „Volksdemokratie“, aber das Menetekel „9. November“ taugt trotzdem nicht als Feiertag.

Cohn-Bendit erinnerte daran, dass sich der Slogan, „Wir sind das Volk“ nicht immer und überall auf Demokratie reimt: In Kolumbien lehnte eben eine knappe Mehrheit des Volkes den Vertrag für Frieden und Versöhnung mit den Aufständischen ab. In Polen und Ungarn installierten Kaczyński und Orbán im Namen des Volkes Regime, die Demokratie und Rechtsstaat verhöhnen. Aber auch der Slogan „Wir sind ein Volk“, der nach dem 9. November 1989 aufkam, führt oft in nationale Sackgassen und verbürgt nicht zwangsläufig eine Demokratie. Nach der Herstellung der deutschen Einheit brannten zuerst im Westen und dann auch im Osten Häuser von Ausländern.

23. Mai statt 3. Oktober

Besser als der 3. Oktober, der Tag der „bürokratischen Abwicklung der deutschen Einheit“ (Cohn-Bendit), repräsentiert der Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 den Kern des demokratisch-rechtsstaatlichen Selbstverständnisses in dem vom Faschismus befreiten Nachkriegsdeutschland diesseits der Elbe. Den programmatischen demokratischen Anspruch erhebt das Grundgesetz gleich im ersten Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Demokratie ist eben mehr als nur Mehrheit, auch wenn sie sich als „ein“ Volk kostümiert. Den Anspruch des Grundgesetzes bezeichnete Cohn-Bendit zu Recht als „zivilisatorischen Quantensprung“ in der deutschen Geschichte.

Ein wichtiger Schritt zur Friedenssicherung und Versöhnung in Europa war der zwischen Adenauer und de Gaulle ausgehandelte Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 – flankiert von Städtepartnerschaft, deutsch-französischem Jugendwerk und Studentenaustausch, die dem Vertragstext erst Leben einhauchten und ein tragfähiges soziales Fundament gaben.

Cohn-Bendit anerkannte den – freilich unbeabsichtigten – Kollateralgewinn von Ludwig Erhards Anwerbungspolitik von Arbeitskräften aus Südeuropa – als Beitrag zur Verwandlung der nationalen in eine multikulturelle Gesellschaft. Was die Bundespolitik anzuerkennen bis heute verweigert, war, daraus die Konsequenzen zu ziehen: Deutschland ist seit den 60er Jahren ein Einwanderungsland. Auf kommunaler Ebene akzeptierte die ehemalige Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) die politischen Realitäten, indem sie das „Amt für multikulturelle Angelegenheiten“, das Cohn-Bendit seit 1989 führte, nicht auflöste, wie viele ihrer Parteifreunde und die konservative Presse es ihr einflüsterten. Multikulturalität ist kein Defizit und kein Index für Dekadenz, wie rechte Agitatoren der „Leit- und Rahmenkultur“ und Teile der CDU/CSU meinen, sondern eine soziale und politische Realität. – Das Publikum bedankte sich für Cohn-Bendits flammenden Appell für Europa mit stehendem Beifall. Rudolf Walther