Meena,Chowpatty Beach, Mumbai

Fotos und Text von Helena Schätzle

Meena bin ich vor zehn Jahren bei meinem ersten Besuch am Girgaum Chowpatty Beach, dem bekanntesten Strand Mumbais, begegnet. Sie hat mich angesprochen und wir haben ein Foto gemacht. Wieder zurück aus Deutschland habe, ich einen Abzug losgeschickt: An Me­ena, Chowpatty Beach, Mumbai. Der Brief ist angekommen.

Girgaum Chowpatty liegt im alten, britischen ­Zentrum der 21-Millionen-Metropole am Marine Drive, wo sich abends die Pärchen zum Sonnenuntergang treffen, Familien an der Promenade ein Eis schlecken und die Mittelschicht Indiens vor oder nach der Hitze des Tages Sport treibt. Er ist beliebt bei Einheimischen und bei indischen Touristen und zieht jedes Wochenende die Massen an.

Der Strand ist aber auch Zuhause für obdachlose Familien. 54.000 Menschen leben laut der letzten Volkszählung in Mumbai auf der Straße, nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sind es 150.000. Wohnraum in dieser Stadt, die sich auf einer Halbinsel drängt, ist teuer. Selbst in Slums sind Quadratmeterpreise von 10 Euro keine Seltenheit.

Meenas Familie fand ­ihren Platz unter einem Bhodi-Baum am Chowpatty-Strand, nachdem sie für die Behandlung ihrer krebskranken Tochter ihre Hütte verkaufen mussten. Mit ihrem Mann und Sohn, Schwiegertochter und Enkeln lebt sie unter den Blicken der Öffentlichkeit. Ausgeliefert der Willkür der Polizei, werden in guten Zeiten Plastikplanen als Schutz vor dem Monsun geduldet – in unglücklichen landet das gesamte Hab und Gut der Familie auf der öffentlichen Müllhalde, wo manchmal durch Bestechung ein Teil des Besitzes wieder ausgelöst werden kann.

Selbst mit zwölf Jahren vergewaltigt, teilen sich ­Meena und ihre Schwiegertochter Sap­nam aus Angst um die Kinder Haliwa und Habib die Nachtwache auf. Zu viele Kinder verschwinden und werden Opfer von Misshandlungen.

Als eine der wenigen gebildeten Personen am Strand macht sich Meena für die Rechte von Obdachlosen stark. Sie beantragt Papiere für die Familien, klärt auf, demonstriert und hält ihre Erfahrungen in Texten und Gedichten fest.

Meenas Energie und Lebensfreude bewundere ich sehr. Allen Schwierigkeiten begegnet sie mit einem Lächeln. Wann immer ich mich ausgebrannt fühle von der Hektik der Stadt, begebe ich mich an den Strand, lege meinen Kopf in Meenas Schoß und lasse mein Haar kraulen, während die Vögel über uns ihre Kreise ziehen. „Helena, sieh dir die Wellen an. Sie kommen und gehen genauso wie die Sorgen kommen und wieder gehen.“

Helena Schätzle, geboren 1983, lebt seit 2015 in Indien, wo sie sich die Jahre zuvor immer wieder länger aufgehalten hat. Für Aufsehen sorgten ihre Bilder von Holocaustüberlebenden, die sie für die Ausstellung „Leben nach dem Überleben“ fotografiert hat. Eines der Bilder dieser Reihe wurde 2016 mit dem ­Alfred Fried Award als Friedensbild des Jahres ausgezeichnet.