Frankfurter Buchmesse

Seit gestern stellen 7.000 Aussteller aus rund 100 Ländern ihre ­Bücher auf der 68. Ausgabe der größten Bücherschau der Welt vor

Es schmeckt nach Manufactum

Preis Die Entscheidung für Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“ sorgt für rege Debatten. Dabei geht es auch um die Frage, welches Buch nicht ausgezeichnet wurde

Im Buchmessen-Pavillon: Die auf halbdurchsichtige Vorhänge projizierte Küstenlandschaft im Hintergrund steht für die Ehrengäste der Buchmesse 2016 – Flandern und die Niederlande Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Von Dirk Knipphals

BERLIN taz | Das könnte eine unterhaltsame Buchmesse werden. Jedenfalls gibt es schon jetzt einiges zu diskutieren. Dass die schwedische Nobelpreis-Akademie bisher vergeblich versucht hat, ihren diesjährigen Preisträger ans Telefon zu bekommen, sorgt natürlich für Heiterkeit. Aber andererseits und mit den Worten des US-Präsidenten Barack Obama gesagt, der auch einmal Zeuge eines ziemlich störrischen Auftritts des Singer-Songwriters im Weißen Haus wurde: „Genau so willst du doch Bob Dylan haben, oder?“

Auch die Buchpreis-Entscheidung sorgt für rege Diskussionen. Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“ ist ein, für sich genommen, ziemlich großartig gemachtes Zeugnis geradezu altmeisterlichen Erzählens. Reither, ein Kleinverleger in den Sechzigern, der sich zur Ruhe gesetzt hat und der im Buch meistens nur beim Nachnamen genannt wird, bekommt eines abends überraschend Besuch von einer tollen Frau: Leonie Palm. Tastendes Gespräch, vorsichtiges gegenseitiges Vorzeigen von emotionalen Verwundungen, sie beschließen, etwas Verrücktes zu machen und fahren nach Süditalien. Die Geschichte einer Flucht vor der Eingerichtetheit des Lebensabends. Als sie sich näherkommen, treffen sie auf ein Mädchen, stumm, Bettlerin, das sie nicht mehr loswerden und das sie schließlich begleitet. Und als die Geschichte eigentlich losgeht, ist die Novelle auch schon zu Ende.

Erzähltechnisch ist das alles sehr gut verschraubt. Leonie Palm hat eine Tochter verloren, Reither ein Kind abgetrieben. Die Sprache Kirchhoffs ist tastend, hat viele Nebensätze. Wenn man sie beim Lesen zu sehr pusht, bekommt sie schnell etwas Raunendes; wenn man sie aber leicht nimmt, bekommen die Sätze etwas Federndes. Allerdings bleiben sowohl das stumme Mädchen als auch die afrikanische Flüchtlingsfamilie, die dann auch noch ins Spiel kommt, dann doch Fassade und Einsatz im literarischen Spiel. Und fast noch schwieriger ist, was Bodo Kirchhoff alles auffährt, um seine Effekte zu erzielen: Liebe und Mittelmeer und Sehnsucht nach echtem Leben. „Sie saßen sich gegenüber, zwischen ihren Händen nur das Brot und der Krug …“ Das schmeckt manchmal geradezu nach Manufactum.

Zu kulturkritischen Einsprengseln kommt es auch. So ist Reithers Verlag „weggeschmolzen von der Abwärme des Banalen“. Da hilft es auch wenig, wenn der Erzähler sich in einer gut eingebauten Metaebene immer wieder selbst in die Parade fährt und bei manchen Floskeln erwähnt, dass Reither sie weggestrichen hätte.

Ein wenig hat dieser Buchpreis schon etwas von: Das Imperium des Literaturbetriebes schlägt zurück. Man erinnere sich: Im Frühjahr erhielt Guntram Vespers „Frohburg“, ein tausendseitiges Erinnerungsbuch, in das man sich versenken kann, das sich aber nicht leicht wegliest, den Leipziger Buchpreis. Den Deutschen Buchpreis des vergangenen Jahres bekam Frank Witzels tausendseitiger Roman „Die Erfindung …“, der den Leser vor die schöne, lohnende Aufgabe stellt, sich da streckenweise durchzubeißen. Und dann auch noch der Literaturnobelpreis für Dylan. Demgegenüber nimmt sich der Deutsche Buchpreis für Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“ wie eine Gegenbewegung aus. Als sei es jetzt auch mal wieder gut mit den Grenzgängereien und Anstrengungen. Als habe sich die Jury auf die Suche nach Normalität für den Literaturbetrieb begeben.

Bestimmt wird sich das Buch auf den Verkaufstischen der Buchhandlungen gut machen. Aber Impulse oder auch Irritationen werden von dieser Novelle kaum ausgehen. Vor vier Jahren ist Bodo Kirchhoff mit dem ungleich schwergewichtigeren Roman „Die Liebe in groben Zügen“ beim Buchpreis leer ausgegangen. Vielleicht ist das jetzt auch eine Art Wiedergutmachung.

Bodo Kirchhoff Foto: dpa

Wichtig ist aber auch, welches Buch damit nicht ausgezeichnet wurde, und auch wenn bei solchen Preisen nun alle Aufmerksamkeit auf den Gewinner gerichtet ist, muss man das noch einmal sagen: Nicht ausgezeichnet beim Deutschen Buchpreis 2016 wurde Thomas Melles Buch „Die Welt im Rücken“, und das ist ein echtes Versäumnis. Bei Bodo Kirchhoff kann man die ausgewogene Konstruktion und die schön gezimmerte Sprache anerkennen – gezimmert bleibt sie dennoch.

Die Wahrhaftigkeit, mit der Thomas Melle einem das Schicksal eines Menschen mit bipolarer Störung aufblättert, kann man dagegen schwer bewundern. Und das Argument, dass Melle ein reales Schicksal beschrieben hat, deswegen kein Roman und also auch nicht als „Roman des Jahres“ mit dem Buchpreis ausgezeichnet werden konnte, kann man recht spitzfindig finden. Auf jeden Fall ist Melles Buch sehr literarisch, und ein Roman entscheidet sich nicht am Echtheitssiegel, sondern an seiner Sprache und literarischen Konstruktion.

Die „Widerfahrnis“ wird man schnell ausgelesen haben, Thomas Melles Buch aber wird das Buch dieses Herbstes bleiben.