Flüchtlinge

Großbritannien schottet sich gegen Migranten ab, Frankreich sorgt für geordnete Verhältnisse am Kanal

Die Abreise ins Ungewisse

Frankreich Die Räumung des „Dschungel“ genannten Flüchtlingslagers bei Calais hat begonnen. Die Migranten steigen in Busse, nicht wissend, was sie in den über ganz Frankreich verteilten Aufnahmezentren erwartet

Abschied vom Traum Großbritannien. Für ihre Habseligkeiten bekamen die Migranten von Calais Koffer ausgehändigt Foto: Thibault Camus/ap

Aus Paris Rudolf Balmer

In den frühen Morgenstunden des Montags finden sich vor dem vereinbarten Treffpunkt die ersten Migranten mit ihren Habseligkeiten ein. Bald bildet sich vor den Augen der Polizisten eine Schlange. Diese Menschen aus Afghanistan, Syrien, dem Sudan und Somalia haben eine lange Reise hinter sich. Sie sind das Warten gewohnt. Die meisten von ihnen haben seit Wochen und Monaten vergeblich versucht, von Frankreich über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu gelangen. Wer nicht besonderes Glück oder genug Geld hat, scheiterte mit dem nächtlichen Versuch, auf dem Autobahnzubringer oder an einem Rastplatz auf einen Laster aufzuspringen.

Jetzt haben ihnen die französischen Behörden einen Platz an der Wärme in einem Aufnahmezentrum für Flüchtlinge irgendwo in Frankreich versprochen, wo sie ein Asylgesuch einreichen könnten. Die Tage des „Dschungels“, so der Name des wilden Flüchtlingslagers bei Calais, sind gezählt.

Wie viele der am Wochenende noch etwa 6.000 bis 8.000 Menschen glauben, vielleicht sei dies doch die bessere Lösung, als weiter unter prekären Verhältnissen in diesem kosmopolitischen Zelt- und Hüttenlager auf eine hypothetische Chance einer Überfahrt zu hoffen? Die Hilfswerke haben die Migranten in den letzten Tagen informiert, dass sie gut daran täten, sich auf das Ende des „Dschungels“ vorzubereiten und die ihnen gebotene Gelegenheit, eine wintersichere Unterkunft zu bekommen, zu ergreifen.

Christian Salomé, der Vorsitzende der Flüchtlingshilfe „Auberge des migrants“, schätzt, dass rund 5.000 Menschen zur Abreise bereit seien. Etwa 2.000 aber lehnten die Räumung ab und hätten weiter vor, zu bleiben, um trotz aller Schwierigkeiten die Chance zu behalten, über den Kanal nach Großbritannien zu reisen.

Beim Besteigen eines der Reisebusse stellen sich die meisten die bange Frage, was sie bei ihrer Ankunft am Abend erwartet. Wie werden die Bewohner in den Ortschaften reagieren, wo die Flüchtlingsheime CAO (Centres d’accueil et d’orientation) stehen? In dem Dorf Loubeyrat im Zen­tralmassiv haben Unbekannte in der Nacht im CAO einen Brand gelegt. Nur der rasche Feuerwehreinsatz verhinderte, dass das Heim ausbrannte. Es war nicht die erste Brandstiftung dieser Art in Frankreich.

Trotz einiger Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Migranten in der Nacht auf den Montag beginnt die eigentliche Räumungsaktion ruhig und nach Plan. Jeder Schritt wurde in den Wochen zuvor minutiös geplant und vorbereitet. Die Freiwilligen müssen sich vor einem Transitlager einfinden, das unweit des Camps in einem riesigen Hangar im Osten von Calais eingerichtet wurde. Dort werden Familien, Einzelpersonen und Minderjährige getrennt registriert – mit der Zusicherung, dass alle Angaben zu Herkunft und Identität nicht für eine spätere Abschiebung verwendet würden. Es gibt in den in ganz Frankreich verteilten 450 Aufnahmezentren genug Plätze für alle, wobei jeder zwischen zwei Vorschlägen wählen soll und danach zwei Armbänder mit den entsprechenden Farben erhält.

Die besonders gefährdeten Minderjährigen – insgesamt schätzungsweise 1.200 – werden von den anderen Migranten getrennt. Sie dürfen vorerst in den zu Notunterkünften umfunktionierten Containern neben dem „Dschungel“ bleiben. Fast die Hälfte von ihnen sagt, sie hätten Verwandte jenseits des Kanals. Vertreter des britischen Innenministeriums überprüfen die Angaben. Bis zum Wochenende konnten rund 200 Jugendliche aus Calais legal nach Großbritannien ausreisen.

Die Räumung wird als „humanitäre Evakuierung“­bezeichnet

Bereits eine halbe Stunde nach Beginn der groß angelegten Operation fährt der erste Bus mit rund 50 Passagieren in Richtung Burgund ab. Die Sitze sind mit Plastikhüllen bedeckt. In jedem Bus sitzen zwei Polizisten; auch auf den Rastplätzen, wo Pausen vorgesehen sind, ist eine Überwachung vorgesehen, damit unterwegs niemand verloren geht.

Niemand kann im Voraus sagen, ob die Evakuierten ein Gesuch für Asyl in Frankreich einreichen werden, wie ihnen das vorgeschlagen wird. Es würde bedeuten, dass sie ihre Pläne einer Weiterreise auf die Britische Insel aufgeben müssten. Unklar ist auch, wie die zuständige „Behörde zum Schutz der Flüchtlinge und Staatenlosen“, das Office français de protection des réfugiés et apatrides, mit diesen Gesuchen umgehen wird. 2015 gingen in Frankreich rund 80.000 Anträge ein. Weniger als ein Viertel ist bewilligt worden.

Die französischen Behörden wollen das Lager in Calais, das allen humanitären Standards spottet, im Verlauf dieser Woche schließen und von den bisherigen Bewohnern definitiv räumen lassen. Das ist eine politische und organisatorische Herausforderung. Als „humanitäre Evakuierung“ wird die Räumung bezeichnet. Mehr als 3.300 eingesetzte Polizisten und Gendarmen sollen jeden Zweifel zerstreuen, dass der „Dschungel“ notfalls nicht mit Gewalt geräumt wird. Bulldozer stehen bereit, um das Lager danach dem Erdboden gleichzumachen.