Getanzte Stürze

Schwerkraft und Erotik, Sakko-Mode und manch ungenutztes Potenzial: Abou Lagraa und Compagnie La Baraka eröffneten mit der Choreographie „Cutting Flat“ die Kampnagel-Spielzeit

Erotischer Rhythmus jenseits heterosexueller Zuordnungen

von Katrin Jäger

Sie stürzen, rennen, rollen und posieren. Anmutig, lautlos, leicht wie spielende Katzen glitten die neun TänzerInnen der Compagnie La Baraka über die Bühne. Mit der Deutschlandpremiere seiner neuen Choreographie Cutting Flat eröffnete am vergangenen Mittwochabend der französischen Tanzregisseur Abou Lagraa die neue Spielzeit auf Kampnagel.

Scheinbares Chaos produzieren die Bewegungskünstler in ihren schwarzen Anzügen, das rote Innenfutter ihrer Sakkos blitzt auf bei jeder Pirouette. Plötzlich schwingen sie im Gleichklang, untereinander und zur Musik von Eric Aldéa, die von irgendwo her den Bühnenraum erfüllt, oszillierend zwischen orientalisch anmutenden Klängen, Jazz und Chill-out. Rauch steigt auf von dem Weihrauchgefäß, ein Duft von Moschus und Minze erfüllt den Raum. Die SakkoträgerInnen wälzen sich währenddessen auf dem Boden, der, eingeteilt in rechteckige Parzellen, ein Bild abgibt wie Deutschland aus dem Flugzeug betrachtet: In unterschiedlichen Grautönen strahlen die Areale.

Innerhalb der Parzellengrenzen zeigen SolistInnen die Möglichkeiten körperlicher Bewegungsrituale: geballte Präsenz in einem winzigen Schulterzucken. Dann fließen die Körper über die Grenzen hinweg aufeinander zu, umschlingen einander, finden ihren gemeinsamen erotischen Rhythmus ohne jeden faden pornographischen Beigeschmack, jenseits heterosexueller Zuordnungen. Die Bewegung ist Erotik, die Sinnlichkeit treibt die Tanzenden aufeinander zu und wieder voneinander weg; sie ist gleichsam eine physikalische Energie, mal pulsierend wie der Herzschlag, dann zuckend wie vom Blitz getroffen.

In seinem neuen Stück spielt der Choreograph Abou Lagraa mit den Grundkonstanten des täglichen Lebens: Schwerkraft, Erotik und Sakko-Mode. Von den Performern so sinnlich wie präzise umgesetzt. Da machte es auch nichts, dass bei der Premiere am Mittwoch aus Verletzungsgründen ein Tänzer fehlte. Lichtdesigner Franck Besson zauberte aus blauem Flimmern einen imaginären Swimming-Pool, in dem sich die KünstlerInnen aalten, ein Deckenspiegel ermöglichte dem Publikum, die Tanzenden auch von oben und hinten aus zu betrachten. Jede und jeder mit individueller Geste, Ausstrahlung und Bewegungsstil: klassisch oder HipHop-artig, kampfkünstlerisch oder modern-jazzig. Wie in seinen letzten Stücken Nuit Blanche und Allegoria Stanza nutzte Lagraa auch diesmal den Boden als Requisit: Fläche für lautlose Stürze, Medium der Reibung.

Was fehlte, das waren Überraschungen, Fluchtpunkte in der Höhe, vielleicht ein Spiel mit der Schräge. Bei ihrem künstlerischen Niveau wären derartige Einsprengsel für die PerformerInnen keine akrobatische Hürde gewesen.

Weitere Vorstellungen: Sonnabend, 8. 10. sowie 12.–15. 10., jeweils 20 Uhr, Kampnagel k6