Sanfter Tabubruch

„My brother... Nikhil“ist der erste indische Mainstream-Film, dessen Hauptfigur schwul ist. Im taz-Interview erzählt sein Regisseur Onir, auf welche Probleme er in einer Kinolandschaft gestoßen ist, in der selbst Sex-Szenen mit heterosexuellen Paaren noch für Schlagzeilen sorgen – und wie es ihm doch gelang, sein Werk zu drehen

„Als wir in den Vorführraum gingen, nachdem die Mitglieder der Zensurbehörde den Film gesehen hatten, hatten sie alle feuchte Augen“

Herr Onir, hat es schon vor „My Brother... Nikhil“ in Indien Filme über Aids mit einem schwulen Protagonisten gegeben?

Onir: Ausschließen möchte ich es nicht, doch dies ist der erste kommerziell verliehene hindi/indische Mainstream-Film, bei dem der Held schwul ist, und der zweite, der sich mit Aids und die HIV-Infizierung beschäftigt.

Gab es viel Druck von der Filmindustrie oder von anderen Seiten, das Drehbuch zu verändern und eine heterosexuelle Version der Geschichte zu drehen?

Alle Produzenten, die wir baten, das Projekt zu finanzieren, lehnten ab und wären nur bereit gewesen, Geld darin zu investieren, wenn ich die Hauptfigur in einen Heterosexuellen verwandelt hätte. Uns blieb nichts anderes übrig, als den Film mit persönlichen Anleihen von Freunden und aus der Familie zu produzieren. So ist dies einer der sehr seltenen Fälle einers unabhängig produzierten Films des kommerziellen Hindi-Kinos.

Was glauben Sie, warum „My Brother... Nikhil“ dann doch solch ein großer Erfolg an den Kinokassen war?

Vielleicht wurde er darum vom Publikum akzeptiert, weil wir das problematische Thema feinfühlig angegangen sind. Unser Ziel war es, zu überzeugen und nicht zu schockieren. Außerdem sind alle Darsteller als gute Schauspieler bekannt, und dadurch entstand wohl der Eindruck, dies könne ein guter Film sein. Außerdem waren viele neugierig, wie wir den homosexuellen Aspekt angehen würden. Und schließlich haben dann auch die guten Kritiken die Leute in die Kinos gebracht.

Halten Sie selber ihr Werk für einen Bollywoodfilm? Für europäische Augen sind alle Zutaten wie die musikalischen Shownummern und das Melodrama vorhanden, aber in Indien scheint es doch eher als ein für die Industrie untypisches Produkt zu gelten.

Eigentlich hatte ich ihn als einen Bollywoodfilm angelegt, aber er durchbricht auch das Format eines normalen Hindi-Unterhaltungsfilms. Und fast immer, wenn ich ihn außerhalb Indiens zeige, sagen die Zuschauer hinterher, er wäre anders, aber dennoch ein sehr indischer Film. Im Indien selber wurde er „New Age Bollywood Cinema“ genannt.

Gab es irgendwelche Problem mit den Zensoren? Mussten Sie das Drehbuch ändern oder Szenen schneiden?

Als wir in den Vorführraum gingen, nachdem die Mitglieder der Zensurbehörde den Film gesehen hatten, hatten sie alle feuchte Augen. Sie liebten ihn und gaben ihm eine unbeschränkte Freigabe, ohne auch nur einen einzigen Schnitt zu verlangen. Das bedeutet, ein Film über Schwule darf in Indien von Minderjährigen gesehen werden. Ihre einzige Forderung war, dass wir einen Zwischentitel einfügen, auf dem steht, dass die Geschichte fiktiv ist, um unnötige Streitigkeiten zu vermeiden.

Wie viel an der Geschichte ist denn wahr? Basiert sie auf einen realen Fall? Und sind die Bedingungen, unter denen HIV-Infizierte in Indien leben müssen, immer noch so schlecht, wie Sie es zeigen?

Der Film hat seinen Ursprung in verschiedenen realen Vorkommnissen, von denen ich gehört oder gelesen hatte. Mit der offiziellen Zahl von 5,1 Millionen HIV-Infizierten ist sich Indien des Problems gezwungenermaßen etwas bewusster geworden. Aber die Akzeptanz in der Gesellschaft ist immer noch ein sehr großes Problem. Es gibt viele unterschiedliche Formen der Diskriminierung, in denen sich die soziale Ausgrenzung zeigt.

Die Liebe zwischen den beiden Männer wird so keusch und vorsichtig angedeute, dass es auf einem schwul/lesbischen Filmfest in Deutschland fast unfreiwillig komisch wirkt. Ist das indische Kino wirklich so puritanisch?

Wenn in einem indischen Film ein heterosexuelles Paar bei einer Liebesszene gezeigt wird, gibt das große Schlagzeilen. Aber davon abgesehen, wollte ich nicht, dass sich der Fokus des Films durch so etwas verschiebt. Homosexualität wird oft mit Sex und Promiskuität gleichgesetzt. Ich wollte dagegen von der Liebe zwischen den Männern erzählen, damit ein Mainstream-Publikum diese Beziehung als eine andere Form der Liebe akzeptieren kann und sie nicht nur durch die Lust gelenkt ansieht.

Was fühlen Sie, wenn sie nun nach Deutschland reisen, um ihre Film dort auf schwul/lesbischen Filmfestivals vorzustellen?

Zu Deutschland habe ich eine besondere Beziehung, weil ich in Berlin auf die Filmschule gegangen bin. Und da ich fünf Jahre lang gebraucht habe, diesen Film zu machen, hatte ich keine Zeit, meine Freunde hier zu besuchen. Jetzt komme ich mit meinem Film im Gepäck zurück, kann ihn meinen Lehrern und Freunden zeigen und bin glücklich, dass ich sie nicht enttäuscht habe.

Das email-Interview führte Wilfried Hippen