Europas verlogene Rhetorik
: KOMMENTAR VON MICHAEL BRAUN

Jetzt ist es also Spanien, das einen Flüchtlings-„Ansturm“ erlebt. Zu hunderten versuchten Afrikaner in den vergangenen Tagen die Übersteigung des Zauns von Melilla, zu dutzenden kamen sie durch. Und wurden zur Nachricht. Wie immer, wenn die Zahl der andrängenden Flüchtlinge eine kritische Grenze überschreitet, wenn der stete Zufluss plötzlich zum mächtigen Strom anschwillt. So ist es im spanischen Melilla, so war es öfter schon im italienischen Lampedusa.

Wie immer sieht die Politik „Handlungsbedarf“. Zäune werden erhöht, Patrouillenboote schwärmen aus, Flüchtlinge werden brachial zurückgeschafft. Und Helfershelfer werden gesucht, die Europa den unschönen Job der Flüchtlingsabwehr abnehmen. Italien kooperiert schon fleißig mit Libyen, stellt Geräte und Know-how zur Verfügung, finanziert Camps in der Wüste, bezahlt den Rücktransport der zu Gaddafi zurückgeschafften „Illegalen“ in ihre Heimatländer. Wenn Marokko mitspielt, wird Spanien früher oder später den gleichen Weg einschlagen.

Dazu gibt es regelmäßig Rhetorik. In den Heimatländern müsse die Armut bekämpft werden, heißt es jedes Mal, und gemeint ist bloß: Bei uns haben die Elendsgestalten nichts verloren. Wie die „Bekämpfung der Fluchtursachen“ aussieht, kann man in Nordafrika studieren. Dort gibt es hochsubventioniertes EU-Gemüse oft genug billiger als die Produkte aus dem heimischen Anbau. Erfolgreich „bekämpft“ wird da bloß der europäische Agrarüberschuss, auf Kosten von Bauern, die gegen die Brüsseler Zuschüsse beim besten Willen nicht konkurrieren können.

So schafft Europa Auswanderungsgründe, statt sie zu beseitigen. Und hat dann gleich einen zweiten Ausgabenposten, mit steigender Tendenz: die wachsenden Kosten, die fällig sind, um die Hungerleider von Europa fern zu halten. So dramatisch die Folgen für die „Illegalen“ auch sind, diese Politik bleibt folgenlos: Denn die Menschen kommen trotzdem, getrieben von der Perspektivlosigkeit in ihren Herkunftsländern. Und daran wird sich nichts ändern. So lange jedenfalls nicht, wie die lautlose Entsorgung europäischer Agrarüberschüsse faktisch wichtiger bleibt als die lautstark beschworene „Unterstützung der Herkunftsländer“.