„Wir werden an die Armutsgrenze gedrängt“

Thüringen will das Blindengeld streichen. Dagegen demonstriert der Bundesverband der Blinden am Samstag in Erfurt

taz: Herr Lange, der Bundesverband der Blinden und Sehbehinderten ruft am morgigen Samstag in Erfurt zu einer Demonstration auf. Wogegen richtet sich Ihr Protest?

Hans-Werner Lange: Wir wollen dagegen demonstrieren, dass man Blinde an die Armutsgrenze drängt, ehe man ihnen Hilfe gewährt. Das Land Thüringen will nachmachen, was der Ministerpräsident Niedersachsens vorexerziert hat.

Der nette Christian Wulff, den die Deutschen so sympathisch finden?

Ja, Christian Wulff war in allen Gesprächen mit uns sehr freundlich– im Ton. In der Sache war er knallhart. Er hat die radikale Einschränkung des Blindengeldes in Niedersachsen mit seiner eigenen Großmutter begründet, die ebenfalls blind war. Er habe nie verstanden, sagte Wulff, warum diese gut situierte Frau noch Blindengeld bekommen hat.

Christian Wulff muss eben seinen Landesetat sanieren.

Vor allem wollte er ein Exempel statuieren. Die 20 Millionen, die er einspart, sind doch ein Klacks gegen die jährliche Neuverschuldung von über 2 Milliarden Euro. Wulff wollte zeigen: Seht her, wie entschlossen wir sind! Am Beispiel der Blinden sollte demonstriert werden, wie unbeirrt man Sparpolitik durchziehen kann.

Sie verschweigen, dass das Blindengeld nicht die einzige Unterstützung ist, die blinden Menschen zusteht. Es gibt ja noch die Blindenhilfe.

Stimmt, aber das ist ein ganz anderes System. Das Blindengeld war bewusst als Ausgleich für Menschen mit gravierenden Nachteilen gedacht – unabhängig von Vermögen und Einkommen. Die Blindenhilfe dagegen ist an die Sozialhilfe angelehnt, eine Leistung, die per definitionem Menschen in akuten Notlagen unterstützen soll.

Wie funktioniert die Blindenhilfe?

Sie ist extrem restriktiv. Blindenhilfe erhält nur, wer weniger als 2.600 Euro an Vermögen besitzt. Selbst die Vermögensgrenzen von Hartz IV sind um ein Vielfaches höher.

Was hat die Kürzung des Blindengeldes in Niedersachsen bewirkt?

Von den 12.000 Blinden und Sehbehinderten bekommt heute nur noch ein Viertel staatliche Unterstützung. Dazu gehört das verbliebene Blindengeld von 300 Euro, das nur unter 27-Jährige bekommen. Und auch die Blindenhilfe können nur ganz wenige Blinde in Anspruch nehmen. Die Aktion war faktisch ein Armutsprogramm für Menschen, die alt und blind sind.

Wieso das?

Von den Blinden können nur 4 Prozent einer Beschäftigung nachgehen, meistens erzielen sie kleine Einkommen in sozial ausgerichteten Tätigkeiten, etwa in Blindenanstalten. 70 Prozent der Blinden aber sind über 70 Jahre alt. Die müssen nun erst ihre Notgroschen aufbrauchen, die sie sich fürs Alter aufgespart haben, bevor sie Hilfe bekommen.

Sie finden das ungerecht.

Ja, weil man die Reform des Sozialstaats bei den Schwachen beginnt. Menschen, die ohnehin schwer benachteiligt sind, müssen nun im hohen Alter zum Sozialamt. Die ganze Philosophie ist eine andere. Das Blindengeld war seit seiner Erfindung 1912 dazu gedacht, Blinde vor der Armut zu bewahren und ihnen zu ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Zum Beispiel die teuren Bücher in Blindenschrift erwerben zu können, mobil zu sein oder kommunizieren zu können. Blindenhilfe bedeutet, Menschen, die nicht sehen können, in die Armut zu treiben. Das ist demütigend. Mit Sozialstaat hat das nichts zu tun.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir haben immer davor gewarnt: Auf Niedersachsen werden andere Länder folgen, nach den Blinden wird man andere Gruppen heranziehen.

Welche Chancen rechnen sie sich aus, das Blindengeld in Thüringen zu verteidigen?

Wir werden sehen. Es kommt nur auf eine Stimme im Landtag an. Und Niedersachsen ist ja auch ein abschreckendes Beispiel. Christian Wulff dürfte es schon Leid tun. Die Menschen verstehen es nämlich nicht, was er mit uns gemacht hat.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER