Fragen durch neblige Stille

SCHEUNENVIERTEL Die Schriftstellerin Irina Liebmann machte sich in den 1980ern auf, die Mitte von Berlin zu erkunden. Sie wusste nichts von der Geschichte des Viertels, die man in der DDR dem Vergessen preisgeben wollte

Grund genug, in den bröckligen Häuserzeilen, dumpfen Gassen endlos umherzuwandern

VON CHAIM NOLL

In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts machte sich die Ostberliner Schriftstellerin Irina Liebmann auf eine seltsame und unheimliche Reise. Sie reiste nicht in ein anderes Land, nicht einmal in eine andere Stadt, sondern in die unterirdischen Gefilde, „die verdunkelten Jahre“ ihrer eigenen Stadt.

Es fing harmlos an, mit der Attraktion, die von einigen krummen Straßen und ruinierten Häusern um den Hackeschen Markt ausging, mit neugierigem Eintreten in modrige Hausflure, enge Hinterhöfe. An sich waren verwahrloste Gebäude in Ost-Berlin nichts Besonderes. Der größte Teil der historischen Bausubstanz befand sich in einem heute kaum vorstellbaren Verfall. Jahrzehnte nach Kriegsende sah man noch immer die Einschlaglöcher der Granatsplitter in den Fassaden, die schwarzen Zungen vom Ruß der Bombennächte an stehen gebliebenen Seitenflügeln. An gruseligen Ecken, gespenstischen Einblicken, verödeten Plätzen war Ost-Berlin reich. Meist eilten wir durch all den Stein gewordenen Niedergang, ohne genau hinzusehen: zu alltäglich das Bild, um noch Anteil zu nehmen, zu hoffnungslos, dagegen anzugehen.

Aber von den Häusern und Hinterhöfen um den Hackeschen Markt ging etwas aus, dem sich die Stadtwanderin Liebmann nicht entziehen konnte. Zuerst spürte sie, in einer Umgebung des falschen Neuen, der verlogenen Parolen und realsozialistischen Geschmacklosigkeiten, das überwältigend Authentische dieser Gegend: „Alles war alt, alles echt, alles historisch (…) Es roch nach Abenteuer und Unordnung.“ Und das „in einem Land, in dem Individualismus kaum eine Chance hatte“. Sie fand sogar „Spuren von Luxus“ in diesem brüchigen Ambiente, „und wenn es nur ein stillgelegter Fahrstuhl war oder eine grün glasierte Fliese im Treppenhaus“. Grund genug, in den bröckligen Häuserzeilen, dumpfen Gassen zwischen Alex, Friedrichstraße und Rosenthaler Platz endlos umherzuwandern und immer wieder überraschende „Reste von etwas“ zu finden, „klassizistische Engel, Marmorportale von Bankhäusern neben Toreinfahrten mit Kopfsteinpflaster“. Einen in letzten Spuren auffindbaren innerstädtischen Pluralismus. Durch dieses Milieu irrt Irina Liebmann mit der traumhaften Vision, „das alles könnte einmal belebt gewesen sein, kleinteilig und vielfältig bunt. Eine schwindelerregende Vorstellung in einem Land der heruntergelassenen Rollläden.“

Ihr kommt die Idee eines Romans. Sie nähert sich behutsam, von außen nach innen, zuerst macht sie Fotos in den Straßen und Höfen. Diese Fotos haben künstlerischen Wert, zu recht sind etliche im Buch abgedruckt: Farbfotos auf Orwo-Color, stichig, verblichen wie Immortellenkränze, die man früher in Berlin auf Gräber legte, blassgelb, sanft schimmelgrün, von staubigem Rosa und einer Varietät silbriger Grautöne. Die Fotografien, einmalige Mischung aus sensiblem Blick und Dekadenz des Materials, korrespondieren mit Irina Liebmanns seltener Fähigkeit, das vor ihren Augen Zerfallende auch sprachlich in prägnante, das Vergessen aufhebende, unvergessliche Bilder zu fassen.

So dringt die Verzauberte immer tiefer, auf immer neuen Wegen in ihren mysteriösen Gegenstand ein, treibt Archivstudien, stöbert in vergilbten Zeitungen, Verwaltungsakten, Bauplänen. Vor allem befragt sie die Einwohner, plagt sie mit ihrer Neugier nach etwas, das wir leichthin Vergangenheit nennen, das aber dieser Menschen Glück, Leid, Leben war. Wenn sie in dumpfen Treppenhäusern an fremder Leute Türen klopft, alte Frauen in ihren ärmlichen Wohnungen besucht, Fragen stellt, mit dem Fotoapparat in Höfen herumstreicht, wird sie nicht selten für einen Spitzel gehalten. Auch in der Sophienkirche, wo sich die Bürgerrechtler treffen, die entstehende Opposition, begegnet man ihr mit Misstrauen.

Allmählich stößt sie auf die verborgenen Geheimnisse dieses alten Berliner Viertels, das man früher „Scheunenviertel“ nannte – ein Name, den Irina Liebmann im Ost-Berlin der frühen Achtziger offenbar nicht kennt. Er war wirklich lange außer Gebrauch, mit Scheu gemieden wie der Ort selbst. Sie weiß zunächst nicht, dass ihre Recherche einer Gegend gilt, in der früher viele Juden, namentlich sogenannte „Ostjuden“ wohnten, gemischt mit anderen Berlinern, denn in Berlin gab es nie ein Ghetto. Juden und Nichtjuden lebten zusammen, in denselben Häusern, denselben Straßen. Als die jüdischen Nachbarn mit Verboten belegt, aller Rechte beraubt, schließlich deportiert wurden, sahen es die anderen mit an. Hier brechen die Gespräche mit den alten Leuten ab, die Suchende spürt ein lange eingeübtes „Vergessen und Verschweigen“. Es liegt immer noch über dieser Gegend: auf den Verfall des Menschlichen folgte der Verfall der Gebäude und Straßen. Als Symbol einer traurigen Kontinuität, die Nazi-Zeit und DDR verbindet.

Ein ganz anderer Zugang als Eike Geisels zeitgleich entstandenes, 1986 bei Siedler erschienenes Buch „Im Scheunenviertel“, das aus der Fülle westlicher Archive und Aufarbeitungs-Literatur schöpfen konnte und in Bild und Text dieselben Straßen und Hinterhöfe beschwor, aber von vornherein in Kenntnis des Geschehenen. Irina Liebmann arbeitet sich langsam heran, fragt sich durch neblige Stille. Entdeckt das Verabredete dieser Stille, das Beabsichtigte der Verwahrlosung, die wie ein Rauchvorhang vor diesem Viertel steht. Enthüllt, subtil wie kaum ein Autor zuvor, die Mechanismen der Verdrängung von Geschichte in der untergegangenen DDR. Zugleich setzt sie einem der geschichtsträchtigsten Berliner Viertel ein Denkmal und damit der ganzen Stadt. Die heute durch Berlins alte Mitte Wandernden, die Berlin-Liebhaber und Touristen, verstünden die Magie des Ortes besser, wenn sie um Irina Liebmanns literarische Ausgrabungen wüssten.

Aber das Unwahrscheinlichste an diesem Buch ist: dass es für die düsteren Straßen und verwunschenen Häuserzeilen ein glückliches Erwachen gibt. Im November 1989 fiel die Berliner Mauer, die nicht weit von hier, nur ein paar Straßen entfernt, verlaufen war: „Danach kam wieder Beleuchtung auf, Neubau und eine Menge Cafés. Auch kamen die Juden zurück und die Kapitalisten und die Demokratie, und die jüdische Schule wurde wieder eine jüdische Schule (…) Das Viertel ist bunt, glänzend und voller Leben, und so soll es auch bleiben.“

■ Irina Liebmann: „Stille Mitte von Berlin. Eine fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt“. Berlin Verlag 2009