Die Montagsdemonstrantin

PROTEST Banken, Atommüll, Flüchtlinge: Seit hundert Wochen demonstriert eine Würzburger Mutter gegen alles und für jeden. Kann das funktionieren?

■ Wann: Kommenden Montag, am 3. Dezember, geht Jenifer Gabel mit ihrem Würzburger Montagsspaziergang zum 100. Mal auf die Straße. Über 15.000 Menschen liefen in den vergangenen zwei Jahren mit.

■ Warum: Die Bürgerbewegung kämpft für eine andere Politik in Würzburg und ganz Deutschland. Der Würzburger Montagsspaziergang versteht sich als Plattform für Gruppen und Initiativen mit nachhaltigen Projekten.

AUS WÜRZBURG HANNES VOLLMUTH

Es ist schon dunkel, als Jenifer Gabel zum Protest aufruft, zum 99. Mal. Ein Montag, 18 Uhr, und sie tritt heraus aus der Menschenmenge, zwei Schritte, hoch auf den Sockel vor dem Würzburger Kiliansbrunnen. Die Bahnhofpunks grölen herüber. Einen Moment steht Jenifer Gabel da wie angewurzelt. Dann faltet sie einen Zettel aus der Manteltasche und holt tief Luft.

„Jeden Montag gehen wir für eine nachhaltige Politik und Lebensweise auf die Straße“, sagt Jenifer Gabel. Ihre Stimme ist gut zu hören, nach zwei Jahren Demonstration klingt sie laut und klar. Hitze und Kälte hat Gabel erlebt, schimpfende Omas und pöbelnde Halbstarke. Sie greift ihren Zettel jetzt fester und schreit: „Setze auch du ein Zeichen, geh mit!“ Ein Chor von Trillerpfeifen antwortet ihr.

Plötzlich: Fukushima

99 Wochen, so lange geht sie schon in der Innenstadt von Würzburg demonstrieren. Sie hat ihre Aktion „Montagsspaziergang“ getauft, das klingt friedlich, nicht nach Gewalt und Krawall. Ein Vorbild schwingt auch mit. In Leipzig brachten Montagsdemos 1989 ein ganzes System zum Einsturz.

Am Anfang, am 15. November 2010, stand sie fast allein am Kiliansbrunnen. Ein paar Bekannte waren noch gekommen, und die Mutter, die kalten Hände in den Hosentaschen vergraben. Fünf Monate später warteten 600 Menschen auf dem Platz. Gabel stieg auf den Brunnen und konnte vor Aufregung nichts sagen. In ihrem Kopf war nur ein Gedanke: Fukushima.

Wenn man so will, ist Jenifer Gabel eine Wutbürgerin, auch wenn ihre Kritiker sie damit lächerlich machen wollen und abqualifizieren. Sie sagt: „Wut ist gut, Wut ist wichtig.“ Nächste Woche läuft sie zum hundertsten Mal vom Bahnhof zum Rathaus. Der Würzburger Montagsspaziergang feiert Geburtstag, „ein kleines Wunder“, sagt Jenifer Gabel. Sie ist 35 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern. Die Haare sind rötlich gefärbt, das Gesicht jung und wach. Sie wohnt in einem hellen Haus mit großen Fenstern, ihr Lebenspartner ist Architekt. Fünf Tage in der Woche arbeitet sie im Marketing des Würzburger Stadttheaters. Marketing wollte sie eigentlich nie machen. Mit 14 trat sie in die Antifa ein. Das autonome Kulturzentrum zwei Straßen weiter war ihr Leben. In den Nächten wurde getanzt, bis es Morgen war, und am Tag diskutiert, dass Jenifer Gabel vor Wut die Stimme versagte.

Heute trägt sie Stiefeletten zum Mantel in Orange, die abgewetzten Schlaghosen und die Schuhe mit Plateau hat sie weggeworfen. Am Nachmittag vor der Demo war ihr zweijähriger Sohn Valentin noch im Wohnzimmer auf und ab gehüpft, aus der Stereoanlage schepperten politische Kinderlieder von Fredrik Vahle. „Wer nimmt schon ’ne Familie, vier Kinder und ein’ Hund?“, sang Vahle, und Jenifer Gabel fuhr mit der Hand über den Esstisch aus unbehandeltem Holz. Seit Valentin geboren wurde, lebt sie bürgerlich. Haus, Mann, Kinder, Möbel aus Holz.

Sie bläst in eine Tröte. Ein Passant bleibt stehen und schüttelt stumm den Kopf. Sie klatscht dem Mann einen Flyer in die Hand. Die Wörter Energiewende, Umweltschutz, Konsum und Demokratie stehen darauf, fett markiert, unterstrichen. Es ist einer dieser Montage, an denen sie sich nicht entscheidet, wofür oder wogegen sie demonstriert.

„Warum lassen wir das so sang- und klanglos mit uns machen?“, hatte Jenifer Gabel im September 2010 in ihren Computer gehämmert, ein Post auf Facebook, die Laufzeitverlängerung für deutsche Atommeiler stand kurz bevor. Das Thema ist jetzt Geschichte, aber sie ist immer noch wütend. Missstände gebe es noch genug.

Es gibt Menschen, die sagen: Jenifer Gabel habe kein Profil, sie demonstriere gegen alles. Einmal geht sie gegen die Banken spazieren, dann wieder für die Flüchtlinge, gegen Atommüll, für mehr Fahrradfahren in Würzburg. Man könnte aber auch sagen: Jenifer Gabel schafft ein Forum, eine Plattform, ein Netzwerk. Gruppen kommen jetzt auf sie zu, Initiativen fragen: „Dürfen wir uns vorstellen? Unterschreibt ihr unsere Petition?“ Letzte Woche traten ein Mann und eine Frau ans offene Mikro und sagten: „Wir wollen über einen Stadtgarten informieren, der plattgemacht werden soll. Wir hoffen, das ist okay.“

Dann: die Flüchtlinge

Am Dom vorbei strömt Jenifer Gabel mit 20 Menschen. Sie recken Transparente in den Himmel, und an ihren Hälsen baumeln die Trillerpfeifen. Sie nennt sie die Montagsfreunde: Wigbert, der Hartz IV bekommt und trotzdem auf Ökostrom umgestiegen ist, Petra und Helmut, die ihr Konto jetzt bei der Umweltbank haben, Karan, die eine Mail an den Bundespräsidenten geschrieben hat. Betreff: Flüchtlingspolitik. Gabel könnte bei Attac eintreten, bei den Grünen oder Pro Asyl. Die Sprecherin von Greenpeace Würzburg sagt, sie könnte eine wie sie gut gebrauchen. Doch Jenifer Gabel will keine Organisation. Was sie will, ist, ihrer Wut Luft machen, so wie im autonomen Kulturzentrum vor 20 Jahren. Ihre Wut hat jetzt bewirkt, dass der Montagsspaziergang zur festen Größe in Würzburg geworden ist. Die Leute von Attac laufen manchmal mit, die von Greenpeace halten Vorträge, und sie verkünden Termine. Jeder zweite Spaziergang hat mittlerweile ein eigenes Thema. Und als Ende Januar der iranische Asylbewerber Mohammad Rahsepar in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft Selbstmord beging, demonstrierten sie monatelang gegen nichts anderes.

„Vermögenssteuer jetzt“, ruft sie zum Abschluss, sie sind mittlerweile am Rathaus angelangt, es waren nur 1.200 Meter. „Die Märkte kontrollieren die Politik.“ Jenifer Gabel redet, als würde die Welt brennen, jeden Montag. Aber 20 Spaziergänger werden die Probleme dieser Welt nicht lösen, das weiß sie auch. Sie will trotzdem weitergehen, auch wenn die Gruppe sich langsam auflöst. Manchmal laufen sie nur mit zehn Leuten am Kiliansbrunnen los, die Trillerpfeifen im Mund, damit sie überhaupt jemand hört. Mit dabei die zwei obligatorischen Streifenwagen von der Polizei.

Vielleicht geht es gar nicht anders und es sind die kleinen Schritte, die den Unterschied machen. Nach 99 Wochen gibt es jetzt Menschen, die Jenifer Gabel freundlich zunicken, auch wenn nicht Montag ist, die etwas bewegen wollen. Manche packen sich auch das offene Mikrofon und sagen: „Hallo, ich heiße Max.“ Und schreien dann: „Glaubt ihr wirklich, es tut sich was, wenn ihr die Straßenbahn blockiert?“ Jeden Montagabend steht die Innenstadt still.

Gabel lässt Menschen wie Max ausreden, dann sagt sie: „Nur wenn wir auch stören, machen wir auf uns aufmerksam.“ Wenn alle pünktlich nach Hause kämen, ändere sich gar nichts, glaubt sie. Und sie brüllt: „Die Zukunft ist wichtiger, als pünktlich nach Hause zu kommen!“ Die Montagsfreunde klatschen in ihre Handschuhhände. Max weiß nicht, wohin, blickt sich um, will gehen. Dann fängt auch er zu klatschen an.