Noch friedlich und unüberwacht: der Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche in Berlin wenige Tage vor dem mörderischen Lkw-Anschlag Foto: Karsten Thielker

Brauchen wir jetzt mehr Überwachung?

SICHERHEITSDEBATTE Nach dem Anschlag in Berlin: Minister wollen Telefone und Internet stärker kontrollieren, Polizei-gewerkschaft verlangt mehr Video-überwachung. Ist das echt nötig?▶SEITE 4

Ja

Reiche brauchen keine Polizei, sie sind auf die öffentliche Organisation von Sicherheit und Ordnung nicht angewiesen. Nötigenfalls können sie das mit ihren Mitteln selbst regeln. Sie leben in Gated Communities, sie haben Security-Personal, sie wissen, wie man das eigene Leben schützen kann. In einem demokratisch-rechtsstaatlichen Land ist ­Polizei für die Schwächeren da. Deshalb sollte Innenpolitik, die auch die Angelegenheiten der Polizei abdeckt, besser ein politisches Betätigungsfeld auch für Linke und Grüne sein.

Gerade die Freunde einer offenen Gesellschaft müssen sich einsetzen für ein öffentliches Leben, das gesichert ist. Etwa mit Kameras, vor allem aber durch Personaleinsatz auf der Straße. Bürger und Bürgerinnen, die sich nicht sicher fühlen, verlassen die Öffentlichkeit und verzichten damit auf einen wesentlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Austauschs und der persönlichen Freiheit. Die traditionelle Aversion von Linken und Grünen gegen Law and Order ist ein Fehler – nicht des Law-and-Order-Konzepts, sondern der Linken und Grünen.

Das Schlagwort Law and Order meint: Verantwortliches Handeln gegen die Verwahrlosung von öffentlichen Plätzen; gegen einschüchternden Krawall, gegen mögliche Gewalt überhaupt. Gesetz und Ordnung meint auch: Verantwortung übernehmen für die Wünsche von Menschen, die sich schlicht und ergreifend vor Nachstellungen welcher Art auch immer fürchten. Das betrifft, siehe Köln während der Silvesternacht, nicht allein Frauen, sondern auch sich schwächer fühlende Männer und Angehörige von Minderheiten.

Die Einhaltung von Gesetzen, die den öffentlichen Raum schützen, ist übrigens mit das Erste, was Flüchtlinge von Deutschland erwarten, wenn sie als potenziell neue deutsche Bürger*innen einwandern. Linke und Grüne müssen das lernen – bei Strafe des weiteren ­Bedeutungsverlusts. JAN FEDDERSEN

Redakteur für besondere Aufgaben

Nein

Sicherheit ist der Totschläger jeder Diskussion, denn wer Sicherheit sagt, meint Angst. Angst aber ist das Geschäft der Rassisten und Autoritären. Dabei kann Angst gute Gründe haben. Angst schützt uns vor Dummheiten und Gefahren, genauso wie sie uns in die Arme derselben treiben kann. Ängste nun wirklich ernst zu nehmen, hieße, darüber zu reden, welche uns umtreiben, ob sie gute Gründe haben und wie wir mit ihnen umgehen können, ohne sie irrational zu verstärken.

Mehr Überwachung zu fordern, ob nun im öffentlichen Raum oder auf dem eigenen Mobiltelefon, gibt der Angst und damit denen, die sie gerade nicht verringern wollen, Macht. Will Politik Gesellschaft verbessern, muss sie selbstverständlich auf Ängste antworten und Sicherheit vermitteln, aber auch ehrlich anerkennen, dass es keinen hundertprozentigen Schutz vor Verbrechen und Terror gibt – auch nicht mit Überwachungskameras und Vorratsdatenspeicherung. Wer diese trotzdem fordert, erzeugt den gegenteiligen Eindruck, im Zweifelsfall wider besseres Wissen.

Angst wird gesteigert, als Schlagzeile, als Wahlprogramm, als Talkshow-Sprechblase. Am Anfang steht die Angst um die eigene Sicherheit, dann kommt die Angst vor anderen Menschen, am Ende der Hass auf sie. Wer davon profitiert, lässt sich leicht ausrechnen. Linke Bewegungen und Parteien wohl eher nicht. Im Gegenteil: Bei ihrem unredlichen Versuch, kurzfristig etwas von der Angstdividende abzugreifen, erhöhen sie wie ein schlechter Glücksspieler den Einsatz, den sie am Ende nur verlieren können.

Was bleiben wird, ist ein Sicherheitsapparat, der zwar keinen absoluten Schutz vor Terror bieten, dafür aber ins Privatleben seiner BürgerInnen schauen und darin eingreifen kann. Figuren wie Trump dürfen sich bedanken, wenn ihnen ihre Wahlsiege die Schlüssel nicht nur zum Regierungssitz, sondern zu den Wohnzimmern potenzieller Opponenten gleich mitliefern. DANIÉL KRETSCHMARLeiter von taz.de