Goldmedaille für patente Wäsche

Porträt Gisela-Elisabeth Winkler ist eine ungewöhnliche Unternehmerin. Senior Entrepreneurship bezeichnet die EU das Phänomen der wachsenden Anzahl von Selbstständigen 65plus. Winkler zählt zu den Pionierinnen

Das Leben verläuft wie eine e-Funktion: Mit dem Alter wird alles dichter und intensiver. Unternehmerin Gisela-Elisabeth Winkler Foto: Majken Rehder

von Nicole Andries
und Majken Rehder

Ein Reihenhaus im Norden von Reinickendorf. Das Interieur schlicht und protestantisch. Die Wände voller Bücher, Gemälde und Zeichnungen. Im Treppenaufgang: zwei Schaufensterpuppen in Unterwäsche. Hier wohnt und arbeitet Gisela-Elisabeth Winkler. Die 77-jährige zarte Frau mit asymmetrischem Kurzhaarschnitt und dezentem Lippenstift ist Managerin, Controllerin und Distributorin der Saba Wäsche GmbH, ein Label, das seit 2010 Funktionswäsche für Menschen mit Handicap produziert.

Eigentlich ist Gisela-Elisabeth Winkler studierte Mathematikerin. Auf die Frage, wie sie als Frau den Weg in die Mathematik gefunden habe, antwortet Winkler lapidar: „Was hat das überhaupt mit dem Geschlecht zu tun?“ Und ergänzt mit Blick auf ein Schwarzweißfoto hinter ihrem Schreibtisch, das die Dreijährige auf dem Schoß einer strahlenden blonden Frau zeigt: „Meine Mutter war sehr prägend für mein Frauenbild. Die wollte, dass ihre Tochter studiert. Wir waren sieben Kinder und sollten so viel Bildung wie möglich kriegen. Sie selbst hatte auch Abitur – für ihre Generation ungewöhnlich.“

40 Jahre lang arbeitete Winkler als Redakteurin für das renommierte Zentralblatt für Mathematik in Berlin. Aus dieser Tätigkeit leitet die jetzige Großmutter von sechs Enkelkindern auch ihr Gespür für Innovation ab. „Genau das, was in der Forschung neu passierte, kam auf meinen Schreibtisch. Das war toll. Diese Aktion des Neuen war mir vertraut. Ich bin sowieso ein neugieriger Mensch.
 Dadurch fühle ich mich nicht alt.“

Doch die Fähigkeit zur Flexibilität erklärt sich Winkler nicht nur aus ihrem beruflichen Werdegang. Geboren 1939 in Berlin, zählt sie sich selbst zu der „vergessenen Generation.“ „Wir sind als Kriegskinder lange vernachlässigt worden. Eigentlich hätte jeder von uns eine Therapie gebraucht.“

Unterwäsche im Pflegebett

Menschen mit Krieg und Vertreibung in den Knochen, die trotz Traumata funktionieren mussten, um den Wiederaufbau eines zerstörten Landes zu stemmen. Dass diese Erfahrung prägend bis ins hohe Alter eine bestimmte Haltung erzeugt, davon ist Winkler überzeugt. „Verweigerung war bei unserer Erziehung eigentlich nicht denkbar. Gibt es ein Problem – dann packen wir es an.“ Und mit dieser Hands-on-Mentalität gründete sie 2010 die Saba GmbH. Da war sie 71 Jahre alt.

Wer in Deutschland an Existenzgründer denkt, denkt in erster Linie an junge und dynamische Frauen und Männer, die sich mit Energie und Kreativität die Nächte um die Ohren schlagen, um mit einer tollen Geschäftsidee durchzustarten. Doch dass Existenzgründung nicht mehr nur eine Domäne der Jungen ist, das belegen die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes: So macht die Gruppe der Selbstständigen unter den Erwerbstätigen zwischen 65 und 69 Jahren, deren Quote sich von 2005 mit 6 Prozent auf 14 Prozent im Jahr 2014 mehr als verdoppelt hat, einen Anteil von rund 39 Prozent aus.

Die jüngst von der europäischen Kommission geprägte Wortschöpfung Senior Entrepreneurship macht nun vollends spruchreif, was offensichtlich ein europäisches Phänomen ist. „Seniors are increasingly interested in becoming entrepreneurs. The European Commission is exploring how to benefit from their knowledge and skills.“ So heißt es in einem von der Kommission 2015 herausgegebenen Handbuch, das Hilfestellung bieten soll bei Unternehmensgründungen im Alter.

Winkler machte den Schritt in die Selbstständigkeit selbstständig und ohne Handbuch. Als ihr inzwischen verstorbener Mann Jörg Winkler – emeritierter Professor für Mathematik – 2001 dementiell erkrankte und fortan gepflegt werden musste, sah Winkler sich mit einer Lebenssituation konfrontiert, die neben der emotionalen Belastung vor allem auch praktische Probleme in sich barg: „Er hatte mehr und mehr Bewegungsdefizite. Eines Tages stand ich an seinem Pflegebett und mühte mich, ihm das Unterhemd anzuziehen. Und plötzlich wusste ich, was wir beide brauchten: Unterwäsche, die einfach anzuziehen ist, sogar für spastisch gelähmte Personen.“

Winkler begann zu recherchieren, fragte in Sanitätshäusern, surfte im Internet und fand nichts. Also beriet sie sich mit ihrer Schwester Sigrid Ladig. Die hatte nach ihrer Prüfung zur Schneidermeisterin als Direktrice der Firma Bogner in München gearbeitet. Und dort jedoch Mitte der 1990er Jahre gekündigt, als die Firma ihr die Fortbildung in der Digitalisierung mit dem Argument verwehrt hatte, sie als Frau bekäme sowieso niemals in diesem neuen Bereich einen Job. Sigrid Ladig machte eine Ausbildung zur Berufsschullehrerin und studierte Kunst.

Dass Existenzgründung nicht nur eine Domäne der Jungen ist, belegen aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes

Mit ihrer Schwester als Schneidermeisterin und Künstlerin fand Winkler, die als Mathematikerin „keine Berührungsängste mit der ökonomischen Seite hat“, die optimale Geschäftspartnerin. Denn so wichtig die Funktionalität der Wäsche ist, so wichtig sind dem Duo Ästhetik und Design. Gerade Menschen, die ständig körperliche Probleme bewältigen müssen, sollen sich gepflegt anziehen können. Davon zeugen die anschmiegsamen Stoffe und weichen, leicht zu öffnenden Klettverschlüsse. 2008 wagten die beiden auf der Erfindermesse iENA, Nürnberg, den Schritt in die Öffentlichkeit und wurden prompt mit der Goldmedaille für Innovation ausgezeichnet, 2010 gründeten sie eine GmbH und 2011 erhielten die Erfinderinnen das europäische Patent.

Sehr schön, aber zu alt

Obwohl das Label mit seiner Unterwäsche für bettlägerige Patienten eine Marktlücke schließt, stellt das eigene Alter die beiden Unternehmerinnen vor ein Riesenproblem. Denn eigentlich bräuchten sie Investitionen. Kapital gibt es aber im Alter praktisch nicht, sagt Winkler. So sei einmal bei einer Präsentation von Saba-Wäsche das Produkt von dem Vorsitzenden eines Hospizvereins hoch gelobt worden. Doch als Sigrid Ladig am nächsten Tag bei dem gleichen Mann, im Hauptberuf Bankdirektor, mit allen Unterlagen ein Darlehen beantragen wollte, antwortete der: „Ja sehr schön, aber von uns bekommen Sie kein Geld. Sie sind zu alt!“

Was Winkler und Ladig schließlich durch eigenes Vermögen und mit einer Finanzierung durch Ladigs Ehemann verwirklichen konnten, nämlich die Umsetzung der eigenen Idee und die Gründung der GmbH, diese Möglichkeit wünscht sich Winkler auch für andere Menschen in ihrem Alter: „Es gibt ganz viele Rentner, die sagen, ich muss etwas tun, was relevant ist, was mir und vielleicht auch für die Gesellschaft wichtig ist. Und die muss die Gesellschaft endlich integrieren!“

Winkler macht eine Pause, denkt kurz nach und beschreibt eine Kurve in der Luft: „Zumal man eigentlich alles organische Wachsen mit einer e-Funktion beschreiben kann. Dabei ist e eine transzendente Zahl, genannt nach dem Mathematiker Euler. Mir scheint, dass das Leben wie eine e-Funktion verläuft: Mit dem Alter wird alles dichter und intensiver.“