Die Verdunkelung des Raums mit Taten und Tinte

Bühne Die Live-Graphic-Novel „Human Traffic“ im Heimathafen erzählt eindringlich vom jungen Menschenschleuser Gazâ

Er sitzt auf dem Boden, an die Wand gelehnt. Sein Jackett ist offen, darunter trägt er ein weißes Hemd, er sieht mitgenommen aus, verlebt. Schuhe hat er nicht, er ist unrasiert, seine wenigen Haare stehen hoch – und er ist erst zehn Jahre alt. Alexander Ebeert spielt den türkischen Schlepperjungen Gazâ, der dem Publikum im Heimathafen Neukölln seine Geschichte erzählt.

„Human Traffic“ heißt das Stück, das auf dem im August 2016 auf Deutsch erschienenen Roman „Flucht“ von Hakan Günday basiert. Der Autor eckt in der Türkei mit seinen kritischen Werken an: Günday hält in „Flucht“ nicht nur der türkischen Gesellschaft einen Spiegel vor, erzählt, wie der Mensch dem Menschen ein Wolf sein kann, wie Gazâ als Kind unter den Augen seines Vaters zum Menschenhändler wird, er Menschen wie „Ware“ behandelt und sie in einem „Depot“ unterbringt, um sie weiter nach Europa zu „verfrachten“.

In Berlin wird diese Tätergeschichte von Regisseurin Nicole Oder als sogenannte Live-Graphic-Novel inszeniert. Hinter Schauspieler Ebeerts Rücken passiert allerlei: Dank einem Overheadprojektor, ein paar Folien und jeder Menge Tinte kann das Publikum verfolgen, wie Zeichnerin Bente Theuvsen Szenen des Stücks an die Wand wirft, etwa als Comic Strip – wie die Begegnung mit zwei Schleppern, die Gazâ kennenlernt und mit denen er, wie er sagt, eine tolle Zeit verbringt. Oder Theuvsen wischt über die Folien, entwirft Landschaften, zieht Kreise, verdunkelt den Raum oder erhellt ihn. Manchmal schleicht Alexander Ebeert sich in die Bilder – ein fantastisches Zusammenspiel.

Wie er die Flüchtlinge quält

„Nimm zwei Flaschen Wasser“, ruft Özgür Ersoy Gazâ zu. Der Musiker, der das Stück begleitet, ist bisweilen die Stimme von Gazâs Vater, hauptsächlich aber spielt er Gitarre oder Saz, ein von der Ägäis bis nach Afghanistan verbreitetes Saiteninstrument. Das Wasser verkauft Gazâ an Flüchtlinge, obwohl es ihn nichts kostet und er es genauso gut einfach verteilen könnte. So startet er in das Geschäft mit dem Elend anderer Leute. „Viele Dinge tat ich, an die ich nie wieder denken möchte“, sagt er. Trotz seines Widerwillens erzählt er genau von diesen Dingen.

Anfängliche Skrupel werden schnell beiseitegeschoben, an ihre Stelle tritt die Überzeugung, etwas zu tun, das ja irgendjemand tun muss. Der zehnjährige Junge steigert sich hinein in einen Hass auf die Menschen, die auf ihrem Weg nach Europa sind. „Was habt ihr denn davon, da hinzugehen?“, schreit er. „Bis ins Mark wird man euch ficken.“ Er fängt an, die Flüchtlinge gegeneinander auszuspielen, sie zu quälen. Er sammelt ihre Daten, erstellt Listen und Tabellen: Nahrung, Gewicht, Schlafdauer und Gewohnheiten. Die Wandernden, vor denen er sich ekelt und die er verabscheut, sind sein „Hobby“ geworden. Dem geht er so lange nach, bis es Tote gibt. Auf der linken Raumseite vor dem Projektor steht eine Glasbox, in der Ameisen versuchen, nach oben zu laufen. Mittels einer Kamera werden auch sie an die Wand geworfen, wenn Gazâ mit ihnen spricht, sie sind seine „Depotbevölkerung“.

Die Szenen in „Human Traffic“ sind teils schwer zu ertragen, sie handeln vom Schrecken der Wanderschaft vom Elend in den reichen Norden – erzählt nicht etwa von einem Außenstehenden, sondern von jemandem, der zwar nur ein Rädchen in dieser Maschine ist, sie aber auch am Laufen hält. Gazâ hätte es anders treffen können, er ist ein guter Schüler, macht sich Hoffnungen, auf eine höhere Schule nach Istanbul zu kommen. Vergebens. Am Ende erklingt erneut die Saz, und Gazâ wird von Ersoy aufgefordert, seine Geschichte zu erzählen, er lehnt an der Wand. Ein Ende nimmt diese Geschichte nicht, sie wiederholt sich. „Wir transportieren Fleisch, keine Träume.“

Philipp Fritz

„Human Traffic“: Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, Tickets 15, ermäßigt 10 Euro, 31. 1., 1. 2., 2. 2., 25. 2., 26. 2., 11. 3., 12. 3., 19.30 Uhr